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Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde

Titel: Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
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vorkam – was vielleicht erfreulich hätte sein können, wenn sie über neunzig oder zahnlos gewesen wäre –, aber angesichts der Tatsache, daß sie jung war und noch alle ihre Zähne hatte, hätte sie es vorgezogen, wenn er sich so zwanglos mit ihr unterhalten hätte, wie er es mit Arang tat. Jene Gespräche drehten sich zwar hauptsächlich um die Jagd, aber sie waren lebhaft und angeregt. Stavan hatte seine Pfeile und den seltsam geformten Bogen seines Bruders mitgenommen, und nach dem, was Marrah zufällig mitbekommen hatte, wollte er Arang in der Kunst des Jagens unterweisen, sobald sie in den Wald kamen.
    Manchmal fragte sie sich, ob sie vielleicht diejenige war, die sich unfreundlich benahm. Sie tat ihr Bestes, um sich immer wieder daran zu erinnern, daß Stavans Volk das Problem war, und nicht Stavan selbst, aber manchmal, wenn sie ihn anschaute, konnte sie einfach nicht anders, als sich ihn auf dem Rücken eines dieser Tiere vorzustellen, die Pferde genannt wurden. Und dann dachte sie unwillkürlich an brennende Städte und Menschen, die in Panik davonliefen, und andere Dinge, so schrecklich, daß sie die Vorstellungen hastig wieder verdrängte.
    Bisweilen ertappte sie sich sogar dabei, wie sie ihm die Schuld an der Tatsache zuschrieb, daß sie Xori hatte verlassen müssen. Sie vermißte ihre Mutter und Bere und Ama und Onkel Seme so sehr, daß sie sich oft auf die Lippen beißen mußte, um nicht vor Arang zu weinen, und obwohl sie wußte, daß es ungerecht war, konnte sie sich des Gefühls nicht erwehren, daß sie jetzt zu Hause sein und Onkel Hatzas köstlichen Rehfleischeintopf essen und in ihrem eigenen Bett schlafen würde, wenn Stavan nicht wäre.
    Immer wenn sie in eine dieser düsteren Stimmungen verfiel, gab sie sich besondere Mühe, freundlich zu Stavan zu sein, aber vielleicht spürte er, daß ihre Freundlichkeit unterschwellig mit Groll gepaart war. Marrah konnte nur hoffen, daß er es nicht merkte, weil sie lange, lange Zeit in der Gesellschaft des anderen verbringen würden und es wichtig war, daß sie miteinander auskamen. Außerdem hatte sie im Laufe der vergangenen Wochen eine gewisse Zuneigung zu ihm entwickelt, und wenn sie in einer etwas vernünftigeren Verfassung war, wußte sie, daß er es verdiente, als Freund behandelt zu werden. Es war eine schwierige Situation, und als sie an diesem Nachmittag stromaufwärts fuhren, war Marrah erleichtert, diesmal mit Zastra und Shema in einem Boot zu sitzen.
    Wahrscheinlich wäre Marrah sogar noch unbehaglicher zumute gewesen, hätte sie gewußt, was in Stavans Kopf vorging, während er, Arang und Rhom ihr Boot durch das Buschwerk schleppten. Stavan war nicht unglücklich – in dieser Beziehung irrte sie sich –, aber er war auch nicht sonderlich glücklich. Sein Gemütszustand war eher eine Mischung aus beidem.
    Einerseits war er froh, weil er endlich das Land des Küstenvolks verlassen konnte. Er hatte die feuchtkalten Nebelschwaden und das graue Meer nie gemocht, und obwohl er begonnen hatte, einige ihrer Bräuche zu schätzen, fühlte er sich irgendwie gefangen zwischen dem Meer und dem Wald. Er hatte niemals aufgehört, sich nach den endlosen Weiten des Grasmeeres zu sehnen, und seit dem Tag, als Achan ihn gen Westen geführt hatte, hatte er davon geträumt, wieder nach Hause zurückzukehren. Jetzt, endlich, war er auf dem Weg dorthin, bewegte sich mehr oder weniger in der richtigen Richtung, zwar nicht zu Pferd, wie es sich für einen Mann gehörte, aber zumindest marschierte er auf seinen eigenen zwei Beinen, statt in einem dieser verfluchten kleinen Boote herumgeschleudert zu werden, die aussahen, als würden sie bei rauhem Wetter wie Feuerholz zerbrechen.
    Und andererseits machte er sich große Sorgen. Zum einen gab es keine Garantie, daß er in der Lage sein würde, die Zelte der Hansi zu finden, selbst wenn er es tatsächlich schaffen sollte, wieder in die Steppe zurückzukehren. Der Stamm zog ständig weiter, bewegte sich fortwährend über ein so riesiges Gebiet, daß nur Han wußte, wo sie jeweils lagerten. Und selbst gesetzt den Fall, er fand ihre Spur, bevor er an Erschöpfung starb oder von feindlichen Kriegern getötet wurde – welche Art von Empfang würde ihm sein Vater bereiten, wenn er zu Fuß zurückkehrte, um zu berichten, daß Achan den Tod gefunden hatte und die gesamte Expedition ins Land der Sonne kläglich gescheitert war?
    Alles das hätte schon gereicht, um Stavan nachts nicht schlafen zu lassen, aber es gab noch

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