Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
Rücken aus der Wildnis kam, und ich war diejenige, die euch beide adoptierte und euch nach Xori schickte, um mit Ama zu leben.«
Sie schloß einen Moment lang die Augen, versunken in Erinnerungen. Als Marrah schon glaubte, sie wäre eingeschlafen, öffnete Mutter Asha die Augen wieder und seufzte tief.
»Ich habe mir immer gewünscht, einmal die Tempel und großen Städte zu sehen, die deine Mutter in ihren Liedern besingt, aber leider wird mein Wunsch niemals in Erfüllung gehen. Ich bin bei weitem zu alt dafür, und bevor ihr aus Shara zurückkehrt – falls ihr jemals zurückkommt –, werde ich ohne Zweifel tot sein.«
Marrah wollte Einwände erheben, doch Mutter Asha brachte sie mit einer brüsken Handbewegung zum Schweigen. »Nein, nein, wir wollen uns doch nichts vormachen. Ich habe keine Angst davor, zur Großen Mutter zurückzukehren. Um die Wahrheit zu sagen –manchmal sehne ich mich danach, die Augen zu schließen und für immer in ihrer liebevollen Umarmung zu ruhen, aber du, die du jung und stark bist, fürchtest wahrscheinlich den Tod. Und das ist auch gut so. Du wirst diese Angst brauchen, wenn ihr weiterwandert. Ich habe viele junge Leute sterben sehen, weil sie tollkühne Risiken eingingen, statt auf Sicherheit bedacht zu sein, und du, Marrah, bist doppelt so unbesonnen wie die meisten von ihnen.«
Sie streckte eine Hand aus und legte sie leicht auf Marrahs Kopf. »So geh denn mit meinem Segen.« Sie hielt inne, als sie Arang bemerkte, der etwas abseits stand und sie mit großen, neugierigen Augen anstarrte. »Komm her, Junge, und laß dich ebenfalls segnen, denn es ist ein langer Weg für ein Kind.«
Erleichterung durchflutete Marrah, als sie sich verbeugte und Arang einen Stups versetzte. Sie war sich nicht sicher gewesen, wie Mutter Asha auf die Neuigkeit reagieren würde, daß sie vorhatte, ihren achtjährigen Bruder den ganzen weiten Weg nach Shara mitzunehmen, aber wie immer hatte Mutter Asha sofort verstanden, ohne daß man ihr erklären mußte, warum die Göttin Sabalah befohlen hatte, ihre beiden Kinder zu schicken. Arang sprach Sharan. Wenn Marrah etwas zustoßen sollte – falls sie starb oder zu krank werden würde, um weiterzuwandern –, wäre es seine Aufgabe, nach Shara zu gehen und die Warnung zu überbringen.
Arang kniete nieder und beugte den Kopf, als Mutter Asha ihn segnete. Er wußte, er sollte ihr danken, aber er war so von Ehrfurcht ergriffen, daß er kein Wort hervorbrachte. Sie mußte die älteste Frau der Welt sein. Er fragte sich, ob es stimmte, was einige Leute behaupteten, daß die »Mutter aller Familien« einen Göttinnenstein dazu bringen konnte, sich von allein aufzurichten, indem sie einfach nur mit den Händen wedelte.
Mutter Asha sah seine Nervosität und lächelte. »Hab keine Angst, mein Junge, ich beiße nicht.« Und dann lachte sie so gutmütig, daß Arang sich dabei ertappte, wie er in ihr Lachen einstimmte. »Du machst ganz den Eindruck, als wärst du ein tapferer Junge.« Sie hatte schon vor langer Zeit gelernt, daß es besser war, Kindern zu sagen, daß sie gut
waren,
statt sie zu ermahnen, gut du
sein.»Du
wirst deiner Schwester bestimmt eine große Hilfe sein.«
Vor lauter Verlegenheit wurde Arang blutrot. »Ich h-hoffe es, liebe Mutter«, brachte er stotternd hervor, und dann, erschrocken über seinen eigenen Mut, wich er so hastig von der Sänfte zurück, daß er fast über Marrah gestolpert wäre.
Mutter Asha lächelte, insgeheim amüsiert, wie beeindruckt er von ihr war. Der kleine Junge glaubte offensichtlich, sie wäre so weise wie die Göttin selbst. Sie wünschte, sie könnte immer noch glauben, daß es Erwachsene gab, die einfach alles wußten. In Wahrheit lebte sie genauso wie alle anderen, und es gab Tage, da fragte sie sich, ob sie überhaupt mehr Verstand als ein achtjähriges Kind besaß.
Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Marrah zu, die ebenfalls gespannt auf einige Worte der Weisheit wartete. »Ich weiß nicht viel über die Länder, durch die ihr kommen werdet, nachdem ihr das Blaue Meer erreicht habt, aber ich habe jede Menge Geschichten über die Reise durch die Wälder gehört. Das Land zwischen hier und der Küste besteht hauptsächlich aus Wildnis. Es gibt zwar ein paar Siedlungen entlang des Flusses, doch die meisten Bewohner richten sich nach der alten Lebensweise, nehmen nur das, was die Göttin ihnen an Wild und wildwachsenden Pflanzen gibt. Die Händler erzählen mir oft, daß die meisten der Mutter-Stämme es
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