Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
Gurasoak auf, noch bevor die Frühstücksfeuer angezündet worden waren. Es war ein kühler, windstiller Tag, und als Marrah dem Meer der Grauen Wogen den Rücken kehrte und in Richtung Flußmündung marschierte, hatte sie das Gefühl, daß sich eine ganz neue Welt vor ihr auftat.
Die Flußmündung war ein riesiges, weitverzweigtes Tidebecken, das teils Salzwasser, teils Süßwasser enthielt. Im Morgengrauen und zur Zeit der Abenddämmerung ertönte das monotone Konzert von Tausenden von quakenden Fröschen im Schilf. Das Küstenvolk nannte den Fluß, der das Becken speiste, Ibai Nabar oder auch den »Fluß der vielen Farben«, weil seine breite, ruhige Oberfläche den Himmel reflektierte und in einem Kaleidoskop von Farben schillerte, von Dunkelgrau bis hin zu Muschelrosa, wenn die Sonne aufging. Gegen Mittag schimmerte die Flußmündung wie eine Eisfläche, aber frühmorgens und am Spätnachmittag nahm sie an klaren Tagen eine durchscheinend blaue Färbung an, die Marrah an Stavans Augen erinnerte.
Und dennoch, so schön die Flußmündung auch war, so war es doch kein Vergnügen, an ihren Ufern entlangzuwandern, besonders nicht, wenn man einen schweren Korb voller Waren trug. Von Sümpfen und Mooren durchzogen, war es ein trügerisches, unwegsames Gelände, an einigen Stellen war der Morast so tief, daß man bis zur Taille darin versank, und es kam durchaus vor, daß Händlertrupps zehn Tage oder sogar noch länger für den Weg bis zur Mündung brauchten.
Aber dank Mutter Asha verließen Marrah, Arang, Stavan und die Händler Gurasoak auf viel bequemere Art, indem sie in zwei kleinen, runden Shavas an dem morastigen Ufer entlangfuhren. Die leichten, wasserdichten Boote – aus Kuhhäuten gefertigt, die über Rahmen aus Weidengeflecht gespannt und mit Pech versiegelt waren – fanden sich in jedem Darf des Küstenvolks. Marrah kannte sich gut mit ihnen aus, da sie von einem solchen Boot aus gefischt hatte, seit sie alt genug gewesen war, um eine Angelrute zu halten. Es war schwierig, sie zum Kentern zu bringen, aber noch schwieriger, sie zu steuern, und obwohl sie in ruhigem Wasser sicher auf der Oberfläche lagen und sich rasch vorwärtsbewegten, wenn man mit der Flut dahintrieb, waren sie praktisch nutzlos, versuchte man, gegen die Strömung anzukommen.
Da zur Zeit gerade Flut herrschte, hätten die Boote eigentlich kein Problem bereitet, wenn Stavan und die Händler gewußt hätten, wie man sie steuert, was aber nicht der Fall war. Zuerst drehten sie sich ständig im Kreis, während Rhom und Stavan fluchten und Shema und Zastra sich mühsam abstrampelten. Schließlich übernahm Marrah das Ruder und zeigte ihnen allen, wie man damit umging, und danach kamen sie flott voran, hielten an, wann immer die Ebbe einsetzte, und schlugen ihr Lager auf, wo immer sie ein Stück trockenes Land finden konnten.
Am zweiten Abend fing es an zu regnen, und so drehten sie die Shavas einfach um und benutzten sie als Unterschlupf. Sie mußten sich mit Schlafen abwechseln, weil unter den Booten nicht genügend Platz war für sechs Personen und die Tragekörbe, aber der Regen war warm, und die Händler machten deutlich, wenn irgend etwas naß würde, dann auf keinen Fall die Vogelmasken aus Stroh und die federbesetzten Capes.
Am nächsten Morgen machten sie sich wieder auf den Weg, paddelten den Fluß entlang unter einer Sonne, die ihre Kleider im Nu wieder trocknete. Es war eine schöne, angenehme Art zu reisen, und als Marrah ihr Paddel in den schimmernden Wasserspiegel unter sich tauchte, empfand sie zum ersten Mal, seit sie Xori verlassen hatte, ein Gefühl inneren Friedens.
Geschützt von den böigen Winden und den Winterstürmen der Küste, war die Flußmündung von Tausenden von Vögeln jeder Art besiedelt – Graureihern, Rohrdommeln, Seetauchern, Wachteln, Lummen, Wildgänsen, Königsfischern und schwarzköpfigen Seemöwen, die von dem Fischreichtum in den klaren Gewässern so fett waren, daß sie kaum fliegen konnten. Manchmal, wenn die Boote vorbeiglitten, stiegen riesige Schwärme von Stockenten unter empörtem Geschnatter in die Luft auf. Es waren so viele, daß das Klatschen ihrer Flügel die Wasseroberfläche kräuselte, und einen oder zwei Augenblicke lang verdeckten ihre Körper das Licht der Sonne.
Aber meistens betrachteten die Vögel die kleine Reisegruppe mit Gleichmut, hielten kaum lange genug inne, um die vorbeigleitenden Boote mit einem Blick zu registrieren, bevor sie mit ihrer Nahrungssuche fortfuhren.
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