Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin
Abend als diesen mehr erlebt.
Die Priesterinnen, die sich um die Kranken kümmerten, probierten sämtliche Methoden aus, die sie kannten, um Hiknaks Gedächtnis wiederherzustellen.
Da sie immer noch in Gefahr war, in die tödliche Apathie zu versinken, die oft als Folge von Kopfverletzungen auftauchte, kamen sie jeden Morgen in ihr Zimmer, um bei ihr zu sitzen und ihre Hände auf sie zu legen, während sie spezielle Heilgesänge anstimmten. Danach flößten sie ihr ein Gebräu ein, eine Mischung aus Essig, starkem Tee, Wermut, Minze und Eisenkraut. Als sie sahen, daß Hiknak noch immer in der Vergangenheit wandelte, zwangen sie sie, eine bittere Flüssigkeit zu trinken, die aus heiliger Erde und den Bohnen einer seltenen Pflanze von den Händlern aus dem Osten bestand.
Der Bohnensud schmeckte scheußlich, sollte jedoch stark genug sein, um Tote zu erwecken, und langsam, ganz langsam – so langsam, daß Marrah fast schon die Hoffnung aufgeben wollte –schien der Trank zu wirken.
Als der Sommer seinem Ende zuging, begann sich Hiknak nach und nach zu erinnern. Zuerst waren ihre Erinnerungen bruchstücchaft und unzusammenhängend wie die Perlen einer zerrissenen Halskette: Den einen Tag fiel ihr plötzlich das sharanische Wort für »Tasse« ein, und am nächsten Tag hatte sie es wieder vergessen. Aber nach einer Weile begann sich die Kette wieder aufzufädeln, die Worte wurden zu Sätzen, und Sätze wurden zu Ereignissen aus vergangener Zeit.
Eines Morgens, als Marrah ihr gerade ihr Frühstück brachte, blickte Hiknak zu ihr auf und lächelte.
»Bist du das, Marrah?« sagte sie in perfektem Sharanisch. Marrah war so überrascht, daß sie beinahe die Schüssel mit Weizenbrei in Hiknaks Schoß hätte fallen lassen.
»Ja, Hiknak. Ich bin's.«
»Warum liege ich im Bett? Bin ich krank?«
Marrah setzte die Schüssel ab und zog Hiknak in ihre Arme. Tränen brannten in ihren Augen, und sie war so glücklich,daß sie kaum sprechen konnte.
»Willkommen daheim«, schluchzte sie.
Hiknak sah verwirrt aus. »Warum weinst du denn?« »Du erinnerst dich nicht an das, was passiert ist?«
Hiknak schüttelte den Kopf.
Marrah wischte sich die Tränen mit dem Handrücken ab und zwang sich, ruhig zu sprechen. »Du warst lange fort, bist in der Vergangenheit gewandelt, wo dich keiner von uns erreichen konnte.« Sie hielt inne, fragte sich, wo sie beginnen sollte. »Erinnerst du dich noch an den Tag, als du mit Keshna und Keru zum Fluß hinuntergegangen bist, um Beeren zu pflücken?«
Hiknak preßte die Lippen zusammen und runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht. Nein, ich glaube nicht.«
»Ein Nomadentrupp hat euch angegriffen. Einer der Krieger traf dich hart am Kopf, und du bist mit dem Gesicht nach unten in den Fluß gefallen. Wenn Keshna dich nicht herausgezogen hätte, wärst du ertrunken. Sie haben Arang und Keru entführt.« Sie brach ab. Hiknak starrte sie verständnislos an. »Du weißt doch noch, wer Arang ist, nicht wahr?«
»Mein Bruder?«
»Nein, Hiknak. Arang ist
mein
Bruder. Er ist dein Geliebter.«
Hiknak errötete und wickelte sich eine Strähne ihres Haares um den Finger. »Ist dieser Ar ...« Sie suchte krampfhaft nach dem Namen. »Sieht er gut aus?«
»Du hast ihn immer für gutaussehend gehalten.«
Hiknak blickte sich ängstlich im Raum um. »Wird V ...« Wieder suchte sie nach einem Namen und brachte ihn nicht zustande. »Wird V ... mich töten, wenn er dahinterkommt?
»Du meinst Vlahan?«
Hiknak nickte.
Marrah seufzte. Hiknaks Gedächtnis war nicht wie eine Halskette. Es kam ihr eher wie ein Krug vor, der auf einem Fliesenfußboden zerschellt war und den man wieder zusammenzukleben versuchte. Keines der Bruchstücke paßte so recht zusammen. »Du bist jetzt nicht mehr Vlahans Konkubine«, erklärte sie. Sie nahm Hicnaks Hände und hielt sie einen Moment fest in ihren. »Was ist das letzte, woran du dich erinnern kannst?«
»Wie ich Kräuter für die alte Zulike gesammelt habe.« »Wie alt bist du, Hiknak?«
Die Frage schien Hiknak einen Moment Kopfzerbrechen zu bereiten, dann hellte sich ihre Miene auf. »Vierzehn?«
»Nein, du bist achtzehn. Du bist Mutter. Vier Jahre sind seitdem vergangen.« Langsam und bedächtig erzählte Marrah Hiknak ihre Lebensgeschichte, und langsam, wie ein Kind, das stolpernd seine ersten Schritte macht, hangelte Hiknak sich vorwärts auf ihrer Gedächnisstraße.
Es war schwer, sie in die Gegenwart zurückzuholen, doch Marrah gab nicht auf. Jeden Tag erinnerte
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