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Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin

Titel: Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
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ihre schwache rechte Hand und ließ sie zart über Keshnas Gesicht gleiten. »Yartanak?« Sie wurde noch verwirrter. »Bretnak?« Vielleicht meinte sie damit ihre jüngeren Schwestern oder Nichten, oder es waren ihr einfach eine Handvoll Namen eingefallen. »Utranak? Dremnak?« Tränen sammelten sich in ihren Augen und begannen, über ihre Wangen zu kullern. Sie stieß Keshna leicht gegen die Brust. »Geh weg.«
    Danach benahm sich Keshna schlimmer als je zuvor. Die Priesterinnen, die die Kranken heilten, entschieden schließlich, daß sie an der Krankheit litte, die Shohwar hieß. Shohwar war dasselbe Wort, das die Sharaner für leere Flächen oder Räume benutzten: Tassen ohne Inhalt, endlose graue Himmel, ungestrichene Wände; es konnte aber auch eine Leere im Menschen sein.
    Laut den Priesterinnen war Keshna shohwar, weil ihre Seele Schaden erlitten hatte, und sie wiesen jeden an, das Kind mit besonderer Freundlichkeit zu behandeln. Deshalb durfte Keshna stundenlang bei Marrah sitzen, auf ihren Schoß klettern und ihren Kopf an ihre Schulter lehnen, während Marrah sie sanft in ihren Armen wiegte und ihr vorsang.
    Manchmal sang Marrah Schlaflieder, manchmal Gedenklieder; einmal sang sie sogar Sabalahs gesamte Liederlandkarte, die die Strecke vom Meer der grauen Wogen bis nach Shara umfaßte; aber Keshna schien es nicht zu kümmern, was in den Versen vorkam, solange sie nur weitersang.
    Luma kam häufig ins Zimmer, um zuzuhören, und dann nahm Marrah sie beide auf den Schoß, ein Mädchen in jedem Arm wie ein Muttervogel, der seine Küken unter die Flügel nimmt. Aber Luma mochte das dunkle Zimmer nicht; bald lief sie wieder hinaus, und Marrah konnte sie draußen mit den anderen Kindern lachen und toben hören.
    Manchmal, wenn Marrah einen Moment hinausging, um frische Luft zu schnappen, beobachtete sie, wie die Kleinen herumtollten und kicherten und übereinander stolperten wie ein Wurf junger Welpen. Sie schaute zu, wie Luma mit einer Drachenschnur in der Hand über die Felder rannte, während ihre nackten Füßchen über den Boden stampften; oder sie sah, wie sie Shutu prustend eine Tasse kaltes Wasser über den Kopf goß oder sich mit Minha im Staub raufte, und der Anblick ihrer Tochter – gesund, wohlauf und voller Ausgelassenheit – zauberte ein Lächeln auf Marrahs Lippen. Wenn sie dann ins Krankenzimmer zurücckehrte, um Hiknak mit Brühe zu füttern oder Keshna auf den Schoß zu ziehen, nahm sie dieses Lächeln mit und erhellte damit die Dunkelheit.
    Solche Augenblicke gab es jedoch selten. Das Warten war die härteste Arbeit, die Marrah jemals verrichtet hatte, und oft dachte sie, wenn Stavan nicht gewesen wäre, wäre sie wahrscheinlich ebenfalls shohwar geworden. Zweimal war es ihm bis jetzt gelungen, ihr eine Nachricht zu schicken. Das war zwar nicht annähernd oft genug, aber es genügte, um ihre Hoffnung aufrechtzuerhalten.
    Die erste Nachricht hatte sie ungefähr zwei Wochen, nachdem sie und Dalish wieder in Shara eingetroffen waren, erreicht. Eines heißen Sommernachmittags war ein Händler aus Mahclah mit der Meldung gekommen, daß Stavan den Rauchfluß überquert habe und in Richtung Norden unterwegs sei. Er schien die Nomaden jedoch immer noch nicht eingeholt zu haben, denn als das Wetter umschlug, lief ein Raspa in den Hafen ein und brachte einen weiteren Bescheid: Stavan hatte Shambah erreicht, dort ein paar Tage Rast eingelegt und war dann in die Steppe aufgebrochen.
     
    Sagt Marrah, daß ich Nikhan ausfindig machen werde, um zu sehen, ob ich einen Verband von Kriegern aufstellen kann. Richtet ihr aus, daß Vlahan den gesamten Stamm bis direkt an die Grenze zu den Mutterländern gebracht hat und daß einige Leute erzählen, sie hätten gesehen, wie ein kleiner Junge und ein junger Mann in großer Zeremonie an Vlahan übergeben wurden. Sagt ihr, sie soll nicht nach Shambah kommen, bis ich sie benachrichtige, aber daß ich ihr Pferde schicken werde, sobald ich kann.
     
    An jenem Abend gingen Marrah, Lalah und Dalish an den Strand, setzten sich in den warmen Sand und tranken Wein aus einem Schlauch aus Ziegenhaut, während die Brandung ans Ufer donnerte und kühle Gischt ihre Gesichter benetzte. Keru und Arang lebten noch, aber Vlahan hatte sie in seiner Gewalt. Sollen wir lachen oder sollen wir weinen? fragten sie sich gegenseitig. Sollen wir feiern oder trauern? Am Ende taten sie beides und machten sich damit regelrecht krank – dennoch hatte Marrah seit dem Überfall keinen schöneren

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