Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin
sie Hiknak mehrmals daran, wer sie war, und jeden Tag erinnerte sich Hiknak an ein wenig mehr. Schließlich kam die Zeit, als sie endlich ihr Kind wiedererkannte, sie rief Keshna zu sich und bedeckte sie mit Küssen.
»Mein Liebling, süßes Töchterlein«, summte Hiknak, während sie Keshna zärtlich übers Haar strich. Aber es war zu spät. Keshna schlang ihre Arme um Hiknaks Hals und klammerte sich so fest an sie, daß ihre Finger kleine rote Abdrücke auf Hiknaks Haut hinterließen, doch sie weigerte sich zu sprechen; und als Marrah sie anflehte, etwas zu ihrer Mutter zu sagen, gab sie nur leise, zischende Geräusche wie eine frisch geschlüpfte Schlange von sich.
Die Tage wurden kürzer, und der Herbstwind blies mit eisiger Kraft vom Süßwassersee her, ließ die Wellen auf den Strand donnern. Jeden Morgen, bevor sie zu Hiknak ging, kletterte Marrah auf das Dach des Hauses und blickte nach Norden in der Hoffnung auf die Pferde, die Stavan zu schicken versprochen hatte. Und jeden Tag sah sie nichts als Sand und Bäume und kleine Herden von Rindern, Ziegen und langhaarigen Schafen.
Dann, eines Morgens, als sie schon gar nicht mehr damit rechnete, trafen vier junge Shambahner ein, die sieben Stuten und einen Hengst mit sich führten, zu einer langen Reihe zusammengebunden. Die Pferde waren ein Geschenk von Nikhan, und eines von ihnen, eine braune Stute, wies soviel Ähnlichkeit mit Eoru auf, daß Stavan sie ganz speziell für Marrah ausgesucht haben mußte.
Die Shambahner brachten auch neue Nachrichten mit – Nachrichten, die so unglaublich waren, daß Marrah sie sich dreimal wiederholen ließ.
Stavan, Sohn von Zuhan, schickt all seine Liebe und sagt Marrah, Tochter von Sabalah: Komm nicht nach Shambah. Du kannst absolut nichts tun, um mich bei der Befreiung Arangs und Kerus zu unterstützen. Nikhan und ein paar der anderen rebellierenden Stämme haben mich als ihren Großen Häuptling anerkannt. Im Frühjahr werden meine Krieger Vlahans Lager angreifen, aber dabei kann ich keine Frau mitreiten lassen, nicht einmal dich. Wenn Nikhan und seine Männer wüßten, daß meine Ehefrau wie ein Mann kämpfen kann, würden sie sich gegen mich wenden.
Als Marrah erfuhr, daß Stavan sie nicht wollte, ja, daß sie mehr als nutzlos war und als Frau eine Gefahr für ihren Sohn und ihren Bruder darstellte, ballte sie in ohnmächtigem Zorn die Fäuste und schlug blindlings um sich, wobei sie sich an einer Wand die Fingerknöchel aufschrammte.
An jenem Nachmittag ging Marrah zum Rat der Ältesten und bat um die Erlaubnis, die Felsen über der Stadt auszubauen. Diesmal widersprach ihr niemand. Es kam ihr vor, als hätten alle nur darauf gewartet, daß sie die Initiative ergriff.
Der alte Dakar erhob sich auf die Füße und hielt eine kurze Rede. »Vor vier Jahren hast du uns gebeten, Shara auf die Felsklippen zu evakuieren, und wir haben dich ausgelacht. Wir haben dir erklärt, es sei heiliger Boden, und Batal würde uns schon beschützen, ganz gleich, was geschähe.
Zu jener Zeit wußten wir noch nichts von Krieg, aber seitdem haben wir gesehen, was passiert, wenn ein gefährlicher Feind schutzlose Menschen angreift. Hiknak, unsere liebe hinzugekommene Tochter, wäre fast gestorben, als die Nomaden sie überfielen, und jeden Morgen wachen wir in dem Bewußtsein auf, daß Arang und Keru geraubt wurden – wir trauern um sie, und das Brot schmeckt bitter in unserem Mund.
Du bist jung, Marrah. In der Vergangenheit hörten die Jungen auf die Alten, aber jetzt steht unsere Welt auf dem Kopf. Du kennst die Nomaden besser als wir. Du warst ihre Gefangene und hast unter ihnen gelebt. Sag uns, was wir tun müssen, um uns zu schützen, und wir folgen dir.«
Marrah legte die Hände zusammen und verbeugte sich respektvoll vor Dakar. Dann kam sie ohne Umschweife zur Sache. »Als erstes«, sagte sie, »müssen wir Wachtposten aufstellen. Wir dürfen
nicht zulassen, daß uns die Nomaden noch einmal überrumpeln.«
Die Ältesten stimmten zu, und Yintesa, die Vorsitzende des Verbandes der Männer und Frauen, die jagen, versprach, Wachen unter den besten Jägern der Stadt auszuwählen.
»Als nächstes müssen wir Vorräte im Tempel der Kinderträume lagern und andere Notunterkünfte oben hinaufbauen, damit wir dorthin flüchten können im Falle eines Angriffs. Sie werden mit ihren Pferden nicht den Pfad hinaufreiten können, weil er zu steil und zu schmal ist. Wenn sie ihn zu Fuß erstürmen, können wir Felsbrocken auf
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