Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin
sanft, »ich werde einfach nicht schlau aus dem, was du sagst. Ich schlage vor, wir steigen jetzt von unseren Pferden, sammeln etwas Holz und zünden ein Feuer an. Keshna ist sicher hungrig, wir können die Stadt heute abend ohnehin nicht mehr erreichen, und es hat keinen Sinn, noch länger hier herumzusitzen und sich die Nasen abzufrieren.«
Die Gefährtin lachte. »Du machst dir Sorgen um mich, nicht wahr? Hast du Angst, ich könnte wieder zu der Hiknak werden, die glaubte, sie wäre vierzehn, und die vergessen hatte, daß sie Mutter ist? « Sie beugte sich vor und drückte einen Kuß auf Keshnas Kopf. »Mein Kind, mein kleiner Schatz «, gurrte sie, aber Keshna blieb stumm. Hiknak wandte sich wieder an Marrah. » ›Hände‹ ist das Maß, das meine Leute benutzen, wenn sie große Dinge zählen. ›Drei Hände Feinde reiten in unsere Richtung‹, sagten unsere Kundschafter zum Beispiel, und daraufhin pflegte Vlahan sechs Hände Krieger auszuschicken, um sie zu bekämpfen.«
»Dann sind drei Hände also fünfzehn?« fragte Marrah auf Sharanisch. »Und sechs Hände dreißig? «
Hiknak nickte. »Ganz recht. Ist dir damals nie aufgefallen, daß es in der Sprache der Hansi keine Wörter für Zahlen über zehn gibt? Wenn es mehr Dinge sind, als wir Finger haben, messen wir sie in Händen. Selbst wenn wir von den ›Zwanzig Stämmen‹ sprechen, benutzen wir dabei zwei sehr alte Wörter, die ›vier‹ und ›Hände‹ bedeuten.« Sie hielt inne und blickte wieder auf den Kreis von Lichtern hinab. »Also, was meinst du, wie viele Hände Menschen leben in diesem Kataka?«
Marrah runzelte nachdenklich die Stirn. Sie konnte bis einhundertneunundsechzig zählen, wenn sie Dinge in Gruppen von je dreizehn aufteilte, aber darüber hinaus war das Land der Zahlen noch ziemlich unbekannt. »Es sind weniger Leute, als du Haare auf dem Kopf hast«, sagte sie schließlich, »aber mehr als, äh ...« Sie überlegte angestrengt, versuchte, etwas zu finden, was aus vielen bestand, aber wiederum nicht zu vielen; doch gegenwärtig stand sie ganz im Banne der wandernden Lichter unten im Tal und dieses faszinierenden Anblicks.
Hiknak war praktischer veranlagt. »Aber mehr als die Anzahl der Haare auf deiner Shjetak «, schlug sie vor.
Marrah lachte so heftig, daß sie sich beinahe verschluckt hätte. »Ich hoffe nur, Keshna versteht nicht, was du gerade gesagt hast«, japste sie. »Das Wort Shjetak sollte noch nicht zu ihrem Wortschatz gehören.«
Als sie am nächsten Morgen zu Tal ritten, trafen sie auf ein kleines Dorf, wo man ihnen Schalen heißer, mit Honig gesüßter Milch anbot. Wie Kataka so war auch dieses Dorf kreisförmig angelegt, und als sie in der Mitte standen und sich mit den Dorfbewohnern unterhielten, erfuhr Marrah, daß sie recht gehabt hatte mit ihrer Vermutung, die Lichter von Kataka wären Teil eines Festzuges.
Die Stadt sei nicht oft so prachtvoll erleuchtet, erzählten ihnen die Dorfbewohner, aber durch einen glücklichen Zufall hätten sie gerade noch rechtzeitig Kataka am letzten Abend der Zeremonie des zurückkehrenden Lichts erlebt, an dem alle Mutterclans zur Feier der Wintersonnenwende mit brennenden Fackeln durch die Straßen zogen.
»Die Dunkle Mutter muß euch besonders wohlgesonnen sein«, erklärten die Dörfler Marrah und Hiknak. »Sie öffnet ihr Feuerauge nur einmal im Jahr, und dieses Jahr hat sie es für euch aufgemacht. Ihr müßt Frauen sein, denen viel Glück beschert ist.«
Marrah überlegte, ob sie den Leuten sagen sollte, wie sehr sie sich irrten, entschied sich dann jedoch dagegen. Dies war nicht der richtige Zeitpunkt, um ihnen von der Botschaft zu erzählen, die sie überbringen sollte. Falls sie nicht schon von der Gefahr durch die Nomaden wußten, würden sie es bald genug erfahren, wenn die Katakaner sie um ihre Hilfe baten beim Ausheben der Gräben und dem Einlagern von Vorräten.
»Wieviel weiter müssen wir noch reiten?« erkundigte sie sich höflich.
»Es ist nicht mehr weit, meine Lieben«, erwiderte die Dorfmutter. »Nicht auf diesen hübschen Tieren. Wärst du vielleicht so freundlich, mir das große braune zu überlassen? Meine alten Beine funktionieren nicht mehr so gut wie früher, und es ist wirklich ein entzückendes schwarznasiges Geschöpf mit seinen Schwanzhaaren wie den Zöpfen eines jungen Mädchens.«
Marrah hatte jedoch nicht vor, sich von ihrer Stute Nretsa zu trennen; deshalb schlug sie die Bitte höflich aus, und die Dorfmutter seufzte, bevor sie
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