Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin
schwarzen Fransen warf, sah sie, daß ihre Hälse sehr viel länger als jeder menschliche Hals waren und ihre Gesichter so klein wie die Gesichter von Eichhörnchen.
Sie wandte sich an die Torhüterin. »Was soll das?« verlangte sie zu wissen.
»Das ist bei uns so Brauch. Pilger werden immer zuerst zu den Damen geführt.« Redras Miene blieb ausdruckslos; aber Marrah hegte den Verdacht, daß sie insgeheim den Streich genoß, den sie ihnen gespielt hatte. Andererseits gehörte es wahrscheinlich zu ihren Aufgaben, die sie längst langweilten.
»Und wo«, fragte Marrah höflich, »ist Königin Glyntsa?« »Hier entlang«, erwiderte Redra und schob sie aus dem Tempel.
Königin Glyntsa entpuppte sich als eine ganz normale Sterbliche, die in einem schlichten Haus direkt hinter dem Hauptplatz wohnte. Sie war ungefähr zehn Jahre jünger als Lalah, mit einem breiten, nüchternen Gesicht, kupferrotem Haar und geschmeidigen, schwieligen Händen, die auf fleißiges Weben hinwiesen. Wie alle Königinnen arbeitete sie genauso hart wie sämtliche Bewohner der Stadt, und die einzige Vergünstigung, die ihre Position ihr einbrachte, war die Chance, die interessantesten Pilger auszufragen, bevor sonst jemand Gelegenheit dazu erhielt.
Als Marrah, Hiknak und Keshna in ihr Haus geleitet wurden, war sie gerade damit beschäftigt, Fladenbrot auf einer heißen Tonplatte zu backen.
»Willkommen in Kataka«, sagte sie, packte sie an den Schultern und küßte sie auf beide Wangen, wie es der Brauch war. Sie bot Keshna ein Stück warmes, in Honig getauchtes Brot an, das Keshna so gierig hinunterschlang, als hätte sie seit Wochen nichts mehr zu essen bekommen. Falls Glyntsa auffiel, daß Keshna ein wenig sonderbar wirkte, war sie doch zu höflich, eine Bemerkung darüber fallen zu lassen. Sie stellte eine Schale mit einem ganzen Stapel frischer Fladen auf den Tisch und lud Marrah und Hiknak ein, sich zu bedienen. Dann veranlaßte sie die Torhüterin, ihren Bruder zu holen.
Untergründig waltete doch mehr Förmlichkeit, als auf den ersten Blick erkennbar war; zwar unterhielt sich Glyntsa im Plauderton mit Marrah und Hiknak während der ganzen Zeit, die sie auf ihren Bruder wartete, als wären sie Nachbarinnen, die zu einem Schwatz vorbeigekommen waren. Aber sie stellte ihnen nicht eine einzige der vielen neugierigen Fragen, die Marrah Fremden gestellt hätte, die soeben auf Tieren in die Stadt geritten waren, die noch keiner gesehen hatte. Sie sprach über das Wetter, ließ sich darüber aus, wie beschwerlich es war, im Winter zu reisen, und beklagte sich darüber, daß der letzte Sommer zu trocken gewesen und die Weizen-ernte dementsprechend schlecht ausgefallen war.
Mit dem Auftreten ihres Bruders jedoch änderte sich die Tonart. Er war sehr viel jünger als seine Schwester – ungefähr Mitte zwanzig – und klein und dunkel wie Arang, trotzdem nicht ganz so geschmeidig; gut sah er aus mit den schlanken Schultern, muskulösen Beinen, dem glänzenden schwarzen Haar, einer großen, doch schöngeschnittenen Nase und einem schnellen, herzlichen Lächeln, das die weißesten Zähne enthüllte, die Marrah je gesehen hatte. Er blieb vor ihr und Hiknak stehen und legte die Handflächen zum Zeichen der Göttin zusammen.
»Willkommen in Kataka, Marrah, Enkelin von Lalah, und Hicnak aus dem Norden«, sagte er in fließendem Sharanisch. Dann blinzelte er ihnen zu und lachte. »Es ist eine große Ehre für mich, die tapferen Frauen zu begrüßen, die einen Dolch an Nikhans Geschlecht gehalten und ihn zum Tanzen gezwungen haben.«
Marrah und Hiknak waren so überrascht, daß sie fast von ihren Stühlen gefallen wären.
»Woher weißt du das?« rief Marrah verblüfft. »Wir sind schneller hergereist als jeder Händler. Zwar haben wir gehört, die Priesterinnen von Kataka wären sehr mächtig, aber wer kann schon Neuigkeiten aus der Luft aufgreifen? Können sie etwa fliegen, eure berühmten Priesterinnen?«
Er grinste. »Nur in Träumen und Visionen.« Er hielt einen Moment inne. »Ihr erinnert euch wohl nicht mehr an mich, nicht wahr?«
»Wie sollten wir? « gab Hiknak zurück. »Wir haben dich nie zuvor gesehen.« Sie klang fast unhöflich, aber Marrah konnte es ihr nicht verübeln.
»Ah, aber wir sind uns schon einmal begegnet«, erwiderte er. »Gestattet, daß ich mich euch noch einmal vorstelle: Ich bin Kal, Glyntsas Bruder.« Er zwinkerte Glyntsa zu. »Meine Schwester hat euch wahrscheinlich schon erzählt, daß wir die Maytas von
Weitere Kostenlose Bücher