Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin
gesagt, daß viele Pilger nach Kataka kämen. Als Marrah jetzt die lange, gewundene Straße ins Herz der Stadt entlangritt, erblickte sie bald etliche von ihnen. Kataka war eine der größten Wallfahrtsstätten in den Mutterländern; allerdings nicht etwa wegen seiner günstigen Erreichbarkeit – die Stadt lag in der Nähe der Berge, viele Tagereisen vom Rauchfluß entfernt –, sondern weil seine Priesterinnen Dinge wußten, die niemandem sonst offenstanden. Die Kranken, die Hoffnungsvollen und die Neugierigen kamen hier zusammen, strömten aus Orten herbei, so weit entfernt, daß Marrah noch nie von ihnen gehört hatte.
Bevor sie halbwegs den Stadtkern erreicht hatten, bemerkte sie einen jungen Mann mit einem gewaltigen weißen Leinenturban auf dem Kopf und einem exotischen rot-blauen Vogel auf der Schulter; eine winzige, dunkelhäutige Frau, die in die Felle und Pelzstiefel des nördlichen Wald-Volkes gekleidet war; und ein kleines Mädchen mit einer langen Nase, dessen Aussehen sie an die Insulaner von Gira erinnerte. Das Mädchen trug etwas in seinen Armen, das Marrah zunächst für ein Kind hielt; aber als die Pferde näherkamen, sprang das kleine Wesen mit einem erschrockenen Quietschen hoch, und Marrah sah, daß es ein fellbedecktes Tier mit einem langen Schwanz und einem rosalippigen, fast menschlichen Gesicht war.
Der Hauptplatz bestand aus dem größten Kreis, den Marrah je gesehen hatte. Mit Statuen und Blumenkübeln eingefaßt, bot er eine weite Fläche glatten Bodens, der mit unzähligen kleinen bunten Tonfliesen gepflastert war. Die Fliesen ergaben schließlich Muster, die die Symbole der Dunklen Göttin darstellten. Am äußeren Rand des Kreises erkannte sie die Symbole des Todes: den weißen Hund, den Raben, die Schlange und die Eule. Näher zur Mitte hin bildeten die Fliesen die Sinnbilder der Erneuerung: fröhlich bunte Schmetterlinge, die Marrah an Shambah erinnerten, Bienen mit goldenen Flügeln, Doppeläxte und ein großer Baum des Lebens, der mit Früchten und Vögeln dekoriert war und seine Zweige in einem lebendigen Wirrwarr in alle Richtungen streckte.
Genau im Mittelpunkt lag das Auge der Mutter persönlich, halb geschlossen, als wäre sie zwischen Tag und Traum überrascht worden; Marrah schwang sich von ihrem Pferd, um sich die Darstellung genauer anzusehen, und fand die Pupille mit eigenartigen Zeichnungen ausgefüllt: winzigen Gesichtern, imaginären Tieren und anderen Dingen, die sich jedem Verständnis entzogen.
Redra wies sie an, ihre Pferde an den rotschwarzen Pfeilern der Rednertribüne festzubinden, und befahl der herbeiströmenden Menschenmenge, respektvollen Abstand zu den Tieren zu halten. Eine kurze Weile später fanden Marrah und Hiknak sich in dem matt erleuchteten Raum eines kleinen Tempels wieder, umringt von einem Halbkreis schweigender Frauen.
Es waren dreizehn insgesamt, alle in Schwarz gekleidet, mit breiten, ausladenden Hüften und unglaublich schmalen Taillen. Ihre Köpfe schienen viel zu klein für ihre Körper, und ihre Gesichter verhüllten die langen schwarzen Fransen der Dunklen Mutter. Jede saß – oder eher: hockte – halb zurückgelehnt auf einem kleinen Stuhl aus Ton, so leuchtend bunt mit Schlangenlinien und Energie-spiralen bemalt, daß Marrah das Muster nicht ansehen konnte, ohne schwindlig zu werden. In der Annahme, dies müßten Königin Glyntsa und ihr Ältestenrat sein, wartete sie ergeben darauf, daß eine der Frauen zu sprechen begann; aber das Schweigen hielt weiter an, nur gelegentlich vom Hüsteln der Torhüterin unterbrochen. Schließlich fand Marrah den Mut, an die Frauen das Wort zu richten.
»Königin Glyntsa?« fragte sie. Wieder nur Schweigen. Wirklich
248 eine merkwürdige Art, Pilger zu begrüßen, dachte Marrah und fragte sich, ob ihre Großmutter sich womöglich etwas absolut Unverzeihliches erlaubt hatte, als sie in Kataka eingeweiht worden war. Sie räusperte sich und versuchte es noch einmal. »Mein Name ist Marrah, Tochter von Sabalah, und ich bringe euch Grüße von meiner Großmutter Lalah und meinem Großonkel Bindar, der Priester-Königin und dem Priester-König von Shara.«
Plötzlich lachte Hiknak. »Spar dir die Mühe, Marrah. Sie werden nicht mit dir reden. Es sind alles Tonpuppen!«
Marrah trat einige Schritte näher und sah, daß Hiknak recht hatte. Die Frauen waren Puppen – oder eher heilige Statuen – so groß wie Lebende, und jede trug echte Priesterinnenkleidung. Als Marrah einen Blick unter die
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