Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin
sein ...« Der Mund des Imshas verzog sich zu einem zahnlosen Grinsen. »Aber ich glaube doch, ich wurde aus einem zusätzlichen Grund geschickt. Erinnerst du dich an die Sechs Gebote der Göttlichen Schwestern?«
»Du meinst das eine, das besagt, wir sollen unser Leben genießen, weil unsere Freude ihnen Freude bereitet? «
Das Imsha nickte. »Nun, ich habe in meinem Leben mehr Freude gehabt als die meisten Menschen. Neunzigmal durfte ich den Sommer zählen, vielleicht auch öfter. Gute siebzig von all diesen Jahren habe ich die Lust eines Mannes und die einer Frau zugleich genossen, und zwar meistens in genau diesem Raum. Wenn die Schlaf-matte da oben sprechen könnte«, sagte das Imsha und zeigte zu dem Balkon hinauf, »dann würde sie wie ein ganzer Chor von Nachtigallen singen.«
»Und welche Lust war schöner?« Marrah schlug sich erschrecken die Hand vor den Mund und blickte das Imsha entschuldigend an. Sie hatte keine so intime Frage stellen wollen, aber das Imsha schien nichts dabei zu finden, denn es lehnte sich gähnend zurück, und sein altes Gesicht wirkte plötzlich jünger.
»Die Lust eines Mannes ist heftiger, aber die Lust einer Frau hält länger an«, gab es freundlich Auskunft. » Oft habe ich meine Geliebten bemitleidet – obwohl ich sagen muß, daß sie sich niemals über mich beschwert haben. Die meisten unserer Artgenossen betrachten die Welt, als starrten sie durch ein kleines Loch: Sie sehen ein Stückchen Ellenbogen hier und ein bißchen Nase dort, aber niemals das Ganze.« Es hielt einen Moment inne. »Ich dagegen habe immer alles gesehen, und es ist meine Aufgabe, dir soviel davon zu zeigen, wie du ertragen kannst: Mann und Frau, Vergangenheit und Gegenwart, Tod und Leben, der große Kreis, der geht und kommt und kommt und geht und sich weiterdreht, ohne jemals innezuhalten. Aber zuerst ...« Das Imsha legte erneut eine Pause ein und musterte Marrah. »Zuerst mußt du mir ein perfektes Gefäß töpfern – oder eine perfekte Statue, wenn dir das lieber ist, obwohl Statuen schwieriger sind.«
Einen Moment hatte Marrah den Eindruck, sie hätte nicht richtig gehört. »Ein perfektes Gefäß?« wiederholte sie. »Eine perfekte Statue?« Das ist alles? dachte sie. Es schien einfach zu leicht.
Das Imsha nickte. Es stand von der Bank auf, griff nach seinen abgelegten Kleidern und begann sich wieder anzuziehen. »Du wirst die Spitzhacken, die du brauchst, um den Ton auszugraben, die Siebe, die Wasserbehälter und alles, was du sonst noch benötigst, draußen in dem kleinen Schuppen neben dem Brennofen finden. Zwar wirst du dein Holz selbst hacken müssen, aber in dem Schuppen liegt auch eine Axt.
Glyntsa sagte mir, du wärst bereits eine geschickte Töpferin, von Bindar persönlich angeleitet. Wußtest du, daß auch dein Großonkel Bindar einmal hier war, um von mir eingeweiht zu werden? Die Bäume um dieses Haus waren noch jung und kaum größer als ich in jenen Jahren, und ich hatte noch alle meine Zähne.« Es seufzte. »Ich habe einen Meistertöpfer aus Bindar gemacht, aber deine Großmutter, wie ich schon sagte, war für andere Dinge bestimmt. Sie hatte keine ruhige Hand, aber sie ist eine gute Königin – wie ich höre, eine der besten! «
Marrah war erleichtert zu erfahren, daß diese dritte Stufe des Rituals so einfach sein würde. Die Urkräfte der Dunklen Mutter waren so geheimnisumwoben, daß sie schon befürchtet hatte, das Imsha würde ihr alle möglichen furchteinflößenden, gefährlichen, ja sogar unmöglichen Aufgaben abfordern. Und nun stellte sich heraus, daß nichts Schwierigeres von ihr verlangt wurde, als ein perfektes Gefäß oder eine perfekte Statue zu töpfern, und sie hatte schon mehr Töpfe und Statuen während der letzten Jahre fabriziert, als sie zählen konnte. Vielleicht war sie keine Meistertöpferin wie ihr Großonkel, aber sie hatte ruhige, geschickte Hände.
»Ich werde dir den Topf in drei Tagen bringen«, erklärte Marrah kühn.
Das Imsha erwiderte nichts. Es wandte sich nur schweigend ab und ging hinaus.
Zuerst befürchtete Marrah, sie hätte es verärgert mit ihrer Dreistigkeit; aber als sie an der Tür stand, hörte sie die zurückweichende Gestalt lachen. Es war nicht das würdige Lachen eines älteren Menschen oder das warme Lachen des Imshas, sondern das amüsierte Kichern eines jungen Mädchens, das gerade eine sehr witzige Geschichte gehört hat.
Das Imsha hatte allen Grund zum Lachen. Ein perfektes Gefäß ließ sich unmöglich in
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