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Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin

Titel: Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
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der die Haustür verhüllte, und winkte Marrah zu sich. Bevor es über die Schwelle trat, hielt es einen Moment inne, als musterte es Marrah prüfend hinter seinen schwarzen Schleiern. Die langen Perlenschnüre an seinem Kopfschmuck hüpften leicht auf und ab. Ein anerkennendes Nicken? Marrah hoffte es jedenfalls.
    »Du bist Mutter, nicht wahr?«
    » Ja, verehrtes Imsha.«
    »Ich hätte dich lieber unterwiesen, als du noch jünger warst, trotzdem ist die Mutterschaft eine gute Lehrmeisterin. Du würdest überrascht sein, wie wenige Anwärter genügend Durchhaltevermögen besitzen, um die erste Nacht zu überstehen – selbst die jungen –, aber du bist Lalahs Enkelin ... deshalb habe ich von vornherein erwartet, daß du die Kraft aufbrächtest zu tun, was man dir befiehlt, und die Vernunft, dich nicht zu beschweren. Es hat nie eine störrischere Frau gegeben als deine Großmutter. Sie kam zu mir, als ihre Brüste fest und straff waren, vor mehr Jahren, als ich zu zählen bereit bin, und wenn sie ihre Hände nur ein bißchen ruhiger hätte halten können« – das Imsha preßte zwei behandschuhte Finger zusammen, als hielte es eine Prise Salz dazwischen –, »dann hätte ich ihr die volle Unterweisung erteilt.«
    Das Innere des Hauses war so schlicht wie das Äußere kunstvoll: nüchterne, weißgetünchte Wände, eine kleine Tonbank, die um eine Seite herum verlief, eine runde Feuerstelle, mit weißem Sand und glühenden Kohlen gefüllt, die eine willkommene Wärme spendeten. Marrah bemerkte eine grob zusammengezimmerte Leiter zu einem kleinen Balkon hinauf, auf dem sich Schaffelle befanden, ein großer katakanischer Wasserkrug mit den üblichen Mustern, eine Tasse, einige hübsche Schalen, ein Mahlstein und – das Beste von allem – mehrere Körbe mit Nüssen, Getreide, getrockneten Früchten, Mehl und Fleisch.
    Erleichtert, daß sie sich nicht den ganzen Winter lang von Spatzen ernähren mußte, stand sie da und wartete höflich darauf, daß sich das Imsha setzte, bevor sie selbst Platz nahm; aber das Imsha hatte vorläufig etwas anderes im Sinn.
    Es kehrte Marrah den Rücken zu und begann, seine Schleier abzulegen. Es trug viele Schichten von Kleidung, was erklärte, warum es die Nacht im Freien einigermaßen behaglich überlebt hatte; doch als es schließlich seinen Umhang zu Boden fallen ließ und sich umdrehte, schnappte Marrah überrascht nach Luft. Das Imsha besaß die Brüste einer Frau, aber das bärtige Gesicht eines Mannes.
    »Was bist du eigentlich?« rief Marrah verdutzt und wurde augenblicklich verlegen, denn wie konnte sich eine Schülerin erdreisten, eine solche Frage zu stellen?
    Das Imsha lachte jedoch nur und fuhr fort, sich seiner Hüllen zu entledigen. Es war der älteste Mensch, den Marrah je gesehen hatte, geradezu unglaublich alt, so dürr wie ein Bündel Zweige, mit dunklen, glänzenden Augen und nicht einem einzigen Zahn im Mund, soweit Marrah feststellen konnte – aber das Erstaunlichste an ihm war seine Haut. Marrah hatte viele verschiedene Arten von Menschen kennengelernt während der Jahre, die sie mit Stavan und Arang gereist war; doch noch nie zuvor hatte sie eine Haut wie diese gesehen. Sie schimmerte in der Farbe der Göttin Erde persönlich: nicht wie die rötliche Erde der westlichen Wälder oder die bleiche, trockene Erde der Berge, sondern wie die dunkle, fruchtbare Erde eines Feldes, das Weizen und Linsen hervorbringen konnte.
    Wenn die Dunkle Mutter jemals in menschlicher Gestalt er-scheinen würde, dachte Marrah, dann würde sie genauso aus-sehen. Ein Schauder der Angst überlief sie. Welche Art von Macht mußte einem Wesen innewohnen, das beide Geschlechter in sich vereinte und dessen Haut die Farbe der Mutter Erde trug?
    Das Imsha zog sich bis auf seine Untertunika aus, setzte sich auf die Tonbank und streckte seine Beine aus, um sich die Füße am Feuer zu wärmen. »Beruhige dich«, sagte es. »Ich bin kein göttliches Wesen, sondern ein Mensch, genau wie du. Einzig und allein unterscheiden wir uns darin, daß du als Frau geboren wurdest und ich als beides – Frau und Mann.« Es strich sich über seinen kurzen, seidigen Bart und schloß die Augen, als dächte es an seine südliche Heimat, wo fremdartige Tiere von Bäumen hingen und Schilfgras blühte.
    »Die Priesterinnen, die bei meiner Geburt dabei waren, erklärten es meiner Mutter: die Dunkle Göttin habe mich geschickt, um Ihre menschlichen Kinder daran zu erinnern, daß alles einerlei ist. Das mag durchaus wahr

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