Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin
feststellen. Es musterte das Gebilde einen kurzen Moment schweigend und gab es ihr dann ebenso beiläufig zurück wie jemand, der einem einen alten Korb in die Hand drückt.
»Du wirst das hier benutzen, um zu fangen, was du brauchst«, gab es rätselhaft von sich.
Marrah verließ der Mut. Vor ihren Augen breitete sich ein Winter aus, währenddessen sie auf Vogeljagd ging mit einem Netz von der Größe eines Kinderlatzes. Lieber würde sie Wurzeln ausgraben und Nüsse knacken. Jeder Vogel, der klein genug war, um in diesem Netz hängenzubleiben, würde kaum das Holz wert sein, das man benötigte, um ihn zu braten. Marrah war drauf und dran zu fragen, ob sie nicht nach Kataka zurückgehen und ein paar Angeln zum Fischefangen holen dürfte; aber noch bevor sie die Worte äußern konnte, erhob sich die verschleierte Gestalt und bedeutete Marrah schweigend, ihr zu folgen. Die beiden begannen einen schmalen Pfad hinaufzuwandern, der von dem Teich wegführte und sich über die steile Hügelflanke zwischen den kahlen Bäumen hindurchwand.
Mit jedem Schritt, den Marrah machte, wurde ihr beklommener und ängstlicher zumute. Die Bäume sahen seltsam aus in diesem Teil des Waldes, verkrüppelt und vom Alter gebeugt, mit hervorstehenden Wurzeln, die sie an Vogelkrallen erinnerten, und sie konnte einfach das Gefühl nicht abschütteln, daß etwas Unerfreuliches auf sie lauerte.
Während das Imsha vor ihr herwanderte, schien ein kalter weißer Nebel um sie herum aufzusteigen, und obwohl es heller Tag war, hörte Marrah eine Eule rufen. Irgendwo in der Ferne heulte ein Hund, und ein anderer Hund stimmte in sein Gejaule ein. Als der Wind kleine Wolken vor die Sonne schob, schienen die Schatten zu beiden Seiten des Pfades plötzlich Menschengestalt anzunehmen, und einmal war Marrah sich sicher, den Ruf eines Kuckucks zu hören – was im Sommer nichts Ungewöhnliches gewesen wäre; aber hier, im mittwinterlichen Wald, bewirkte das fröhliche Trillern des Vogels, daß sich die Härchen in ihrem Nacken alarmiert aufrichteten.
Sie stapfte weiter, wohl wissend, daß es zu spät zum Umkehren war, während eine langsam schleichende Angst in ihr hochkroch.
Der Pfad führte über die Kuppe und machte dann eine scharfe Biegung nach links. Sie waren erst eine kurze Strecke hügelabwärts gegangen, als sie auf eine Lichtung stießen. Plötzlich strahlte die Sonne vom Himmel, und eine milde Brise erhob sich, die Marrahs Ängste fortblies wie eine Handvoll trockener Blätter.
Im Mittelpunkt der Lichtung stand ein kleines Haus, so hübsch und einladend, daß sie sich fragte, ob das Imsha es aus einer Traumwelt herbeigezaubert hatte. Es war aus weißem Ton erbaut und mit Weizenstroh gedeckt wie alle Häuser in Kataka; aber es war nicht rechteckig, sondern wie die obere Hälfte eines großen Eis geformt. Die Wände zeigten rote Spiralmalereien, die sich wie Rauch kräuselten. Bunte Vögel flatterten um die ovale Haustür; Blumen in leuchtenden Farben rankten sich um die Fenster; fremdartige Tiere wanderten um den unteren Rand der Mauern herum oder hingen von riesigen grünen Weinreben herab, die so gemalt waren, daß sie in das Rauchabzugsloch hineinzuklettern schienen.
»Norhabi, lyrubu, wuburi«, sagte das Imsha und zeigte auf die Tiere. »Mubumu, Schilfrohr; patabi, die Blumen meiner Heimat.« Marrah verstand zwar keines der fremden Wörter, aber sie hatten einen melodischen Klang.
»Kommst du von weit her, verehrtes Imsha?« fragte sie mit gesenktem Kopf. Unter normalen Umständen hätte sie »verehrte Mutter« oder »verehrter Onkel« gesagt, aber je näher sie dem Imsha kam, desto weniger hätte sie zu sagen vermocht, ob es männlichen oder weiblichen Geschlechts war.
»Ich komme aus dem Süden«, erklärte das Imsha, und es lachte jenes warme, mehrdeutige Lachen, daß das eines Mannes oder auch das einer Frau hätte sein können. »In jeder dritten Generation schickt mein Volk eine Priesterin in den Norden nach Kataka, und die Katakaner schicken uns dafür eine aus ihren Reihen. Es ist eine weite Reise, und ich kann mich erinnern, daß ich ziemlich seekrank wurde, als mich die Seeleute über das Blaue Meer brachten, von einsam ganz zu schweigen; aber es war meine Pflicht, und deshalb erfüllte ich sie. Seit unendlich langer Zeit teilten mein Stamm und die Katakaner die Weisheit der Dunklen Mutter, und jetzt werde ich dich daran teilhaben lassen, falls du dich dessen würdig erweist.«
Das Imsha trat vor, löste den Ledervorhang,
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