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Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin

Titel: Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
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Stavan in der Sicherheit dieser Höhle lag, geschah es zum ersten Mal, daß sie den Schmerz all dessen fühlte, was sie bisher hatte ertragen müssen. Sie war in ein entsetzliches Massaker geraten, wurde gefangengenommen, vergewaltigt und fast getötet, aber die Göttin Erde hatte ihr eine gnädige innere Betäubtheit geschickt und den Mut zu überleben.
    Nachdem sie den Schutz der Benommenheit jetzt nicht mehr brauchte, bröckelte sie Schicht für Schicht, wickelte sich ab wie ein alter Verband. Als die Gemütsstarre von Marrah abfiel, begann sie über ihre Erlebnisse zu sprechen, und Stavan hielt sie während des Zuhörens fest in seinen Armen.
    Vor fünf Jahren, als sie dreizehn geworden war und damit volljährig, hatten sie und Stavan und Arang eine lange Reise aus den westlichen Ländern zu der Stadt Shara unternommen, um die Menschen des Ostens zu warnen, daß eine Invasion der »Tiermenschen« bevorstand. So hatte sich Marrah früher die Nomaden vorgestellt, bevor sie tatsächlich einem Mann zu Pferd begegnete: ein seltsames Wesen, halb Mensch, halb Tier, mit sechs Beinen, zwei Köpfen und einem Schwanz. Die Tiermenschen waren ihr in einer prophetischen Vision erschienen, ein zu schreckliches Bild, um es zu ignorieren. Und so waren sie und die anderen zu einer fast zwei Jahre langen Reise aufgebrochen, während sie all die Mutterländer durchquerten und den Handelsrouten bis an die Ufer des Süßwassersees folgten.
    Auf ihrem Weg gen Osten hatten sie zwei Tage bei den Höhlen von Nar Rast gemacht, einem der ältesten Tempel der Welt. Dort hatten die Priesterinnen Marrah drei Geschenke überreicht: das Pulver der Unsichtbarkeit, das sie später benutzt hatte, um die Nomaden zu blenden und so dem Tod zu entrinnen; einige Tonkugeln, die die Priesterinnen als »getrockneten Donner« bezeichnet hatten und die einen ohrenbetäubenden Lärm machten, wenn man sie in ein Feuer warf; und ein Stück gelben Bernsteins von der Größe ihrer Daumenkuppe mit einem erstarrten Schmetterling in der Mitte. Die Priesterinnen hatten den Bernstein »Träne des Mitgefühls« genannt, und Marrah trug ihn immer noch an einer Lederschnur um ihren Hals; leider war sie schon seit Wochen zu keinerlei Mitgefühl mehr fähig.
    Manchmal wetterte sie wutentbrannt gegen Vlahan und Changar, und manchmal trauerte sie um die kleine Seglerin Akoah und die anderen Frauen, die Changar am Rand von Zuhans Grab stranguliert hatte. Oft weinte sie um die Leute der Stadt Shambah, brutal massakriert oder in die Sklaverei abtransportiert, ihre wunderschönen Schmetterlingsgärten zerstört, ihre Mutterhäuser zu Schutt und Asche niedergebrannt. Und bisweilen weinte sie um sich selbst, um das Vertrauen, das sie verloren hatte und niemals ganz wiedergewinnen würde – um die alte Welt der Göttin Erde, die dem Untergang geweiht war, eine Welt, in der Notzucht unbekannt war und in der Männer und Frauen einander ohne Furcht begegneten.
    Stavan tat nicht viel mehr, als ihr zuzuhören und sie zu streicheln, aber mehr brauchte Marrah auch nicht. Zuerst befürchtete sie, ihre Trauer und ihr Kummer würden niemals enden; doch allmählich, wie die Schneestürme draußen, ließ ihr Entsetzen nach. Schließlich schliefen Angst und Demütigung nicht mehr neben ihr oder verfolgten sie in ihren Träumen. Die Erinnerungen an all diese traurigen Erlebnisse verblaßten allmählich. Zu der Zeit, als der letzte der Stürme über die Steppe fegte und eine dünne Schicht Frühlingsreif auf das Land breitete, hatte Marrah das Gefühl, ihren Schmerz endgültig überwunden zu haben.
    Im Frühling geschah auch noch etwas anderes: Zuerst vermutete sie es nur, und dann begrüßte sie es mit wachsender Gewißheit. Ein Kind wuchs in ihrem Leib, das jedoch nicht in der Schlucht empfangen worden war, sondern bereits im Nomadenlager. Marrah und Stavan steckten die Köpfe zusammen und zählten die Wochen; sie kamen zu dem Schluß, daß sie dieses neue Leben in genau jener Nacht gezeugt hatten, als Stavan sie zum ersten Mal in Vlahans Zelt geliebt hatte. Die Vorstellung, daß sie praktisch unter Vlahans Augen ein Kind von Stavan empfangen hatte, verschaffte Marrah eine besondere Genugtuung. Und was die bange Frage betraf, ob das Kind nicht vielleicht doch von Vlahan sein könnte, so wußte Marrah tief in ihrem Herzen, daß es nicht so war – eine Tatsache, die Stavan bestätigte.
    »Vlahans Frauen empfangen niemals«, sagte er schlicht. »Das ist zum Teil der Grund, warum er so wild

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