Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin
großes Fenster.
Durch das Fenster ihres Mutterhauses, das sie eigenhändig gebaut hatte, sah Marrah nichts als Frieden ringsumher: fruchtbare Felder, grüne Weiden und einen spiegelglatten Süßwassersee; sollte es indessen ein Glück geben, das noch größer war als die unsägliche Freude, wieder mit ihren beiden Kindern vereint zu sein, würde Marrah es rigoros abstreiten.
»Ich will auch ein Fohlen«, trumpfte Luma auf, und sie schmiegte sich fester an Marrah mit der stummen Frage: Liebst du mich genauso sehr wie Keru? Und Marrah schob ihr eine Erdbeere in den Mund, drückte sie an sich und antwortete auf diese Weise: Ja, Luma. Immer, bis in alle Ewigkeit! Du und Keru, ihr nehmt beide den gleichen Platz ein in meinem Herzen.
Aber mit ihren Lippen sagte sie: »Eines Tages werdet ihr beide Pferde haben, den Strand entlanggaloppieren, und der Wind wird mit eurem Haar spielen. Und wenn der Tag zu Ende geht, rufe ich euch zu: ›Luma, Keru, kommt nach Hause!‹ Und wenn ihr da seid, empfange ich euch mit einem Korb voller Honigkuchen und mit Äpfeln für eure Pferde. Hoffentlich steigt ihr dann von euren wundervollen Tieren, um eurer alten Mutter einen Kuß zu geben! «
»Du wirst niemals alt!« widersprach Luma.
»Nein«, stimmte Keru zu. »Niemals.«
»0 doch, das werde ich«, neckte Marrah sie, während sie weitere Beeren verteilte. »Bis ihr zwei alt genug seid, um allein hinauszureiten, habe ich graues Haar und Falten der Weisheit im ganzen Gesicht.«
Luma schlang sich eine dunkle, lockige Haarsträhne ihrer Mutter um die Hand und betrachtete sie nachdenklich. »Wenn du ganz faltig bist, erzählst du uns dann auch Geschichten, wie Urgroßmutter es getan hat – über die Zeit, als Großmutter Sabalah von Shara aufbrach, um in den Westen jenseits des Westens zu wandern, und über die alte Stadt Shara und wie alles war, bevor die Nomaden kamen?«
»Ja«, erklärte Marrah. »Wenn ich wie ein schrumpeliger Apfel aussehe, werde ich all die Geschichten über die alten Zeiten erzählen, genau wie es eure Urgroßmutter Lalah früher zu tun pflegte.«
»Erzähl uns jetzt eine Geschichte«, bettelte Keru.
»Welche?«
»Die eine, wo wir zu dir zurückkommen.«
Marrah seufzte, zog die beiden Kinder fester an sich und schob jedem eine weitere Erdbeere zwischen die Lippen. Keru bat immer um dieselbe Geschichte, was ihr bisweilen Sorgen machte, weil er dabeigewesen war und sich an die Geschehnisse hätte erinnern müssen; aber vielleicht war es ein Segen, daß er diese Schrecken wohl nicht richtig mitbekommen hatte. Sie blickte in sein Gesicht hinunter, das mit Hansi-Clanzeichen tätowiert war, und dann auf Luma, deren braune Augen so klar wie Honig glänzten.
»Soll ich die Geschichte wirklich noch einmal erzählen? « fragte sie Luma.
»Ja.« Die Kleine nickte. »Aber vergiß nicht, mich am Ende dabeisein zu lassen.«
»Ich vergesse dich niemals«, versicherte Marrah, und sie hielt die beiden Kinder rechts und links im Arm, während sie dachte, daß sie schon jetzt ganz verschiedene Persönlichkeiten waren. Der Junge, der so viel Schlimmes durchgemacht hatte, schien auf einem unsichtbaren Pferd durchs Leben zu galoppieren, ohne jemals zurückzuschauen, außer zu jenem Augenblick der Wiedervereinigung mit seiner Mutter. Falls er überhaupt die Zeit hochkommen ließ, die er als Gefangener der Nomaden verbracht hatte, so erwähnte er niemals etwas davon. Ab und zu versprach er sich und sagte ein oder zwei Worte auf hansi, dann schnitt er verlegen eine Grimasse.
Vielleicht hätte ich ihn ermutigen sollen, mehr über die Vergangenheit zu sprechen, dachte Marrah. Aber jetzt war es zu spät. Die Tore seines Gedächtnisses waren so fest verschlossen, daß sie sich manchmal fragte, ob er nicht später deswegen leiden würde.
Luma stellte das genaue Gegenteil dar. Sie war von dem Nomadenüberfall und all den Schrecken der Belagerung verschont geblieben – dennoch schien sie sich alles so deutlich vorstellen zu können, als wäre sie dabei gewesen. Sie machte sich bei weitem zu viele Sorgen für eine Sechsjährige, und manchmal fragte sich Marrah schuldbewußt, ob sie ihre Tochter nicht vernachlässigt hatte.
Nachdem Keru und Arang entführt worden waren, hatte sie weder die Zeit noch die Kraft gehabt, an irgend etwas anderes zu denken als daran, wie sie sie aus der Gewalt der Nomaden befreien konnte. Jedoch Luma war keineswegs zu jung gewesen, um die Nöte der Mutter zu verstehen. Das Mädchen hatte, was die Sharaner
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