Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin
wies eine gebrochene Nase auf; der jüngere daneben hatte ein über und über mit Tätowierungen bedecktes Gesicht, daß es wie ein Stück unschön bestickten Stoffes aussah. Der junge Mann ritt neben dem Mädchen und unterhielt sich mit ihr.
Plötzlich griff Hiknak nach Marrahs Schulter. »Ich weiß, wer diese Krieger sind!« rief sie. »Ich weiß, zu welchem Stamm sie gehören, und du weißt es auch! Wir kennen sie, das sind Nikhans Männer! «
»Nikhans Männer? Willst du damit etwa sagen, dies sind dieselben Nomaden, die damals mit Stavan gegen Vlahan gekämpft haben?«
»Sie haben nicht nur mit Stavan zusammen gekämpft, sie müssen auch gekommen sein, um uns eine Nachricht von Nikhan zu bringen. In der Steppe ist der Schnee erst vor einem oder zwei Monaten geschmolzen. Sie müssen hart geritten sein, um so früh im Jahr hier einzutreffen. Aber warum sollten sie das tun? Es sei denn ...«
»Es sei denn, Stavan lebt!«
Hiknak nahm Marrah bei den Schultern. »Marrah, bitte, fang jetzt nicht an zu hoffen. Stavan ist tot. Er starb vor einem Jahr und kommt nicht zurück, niemals. Vielleicht reitet er Seite an Seite mit dem Herrn des Leuchtenden Himmels im Paradies, oder vielleicht schläft er im Schoß eurer Göttin Erde, aber wo er auch ist, er kann niemals ...«
Natürlich hatte sie recht, aber Marrah kümmerte sich nicht darum. Sie wollte keine guten Ratschläge hören, sie wollte Hoffnung. Hastig löste sie sich aus Hiknaks Griff, rannte zu dem Dach, das dem Tor am nächsten lag, hielt sich am Geländer fest und beugte sich so weit vor, wie sie es wagte.
»Heil, Fremde! Die Stadt Shara begrüßt euch und heißt euch willkommen!« schrie sie. Irgendwie gelang es ihr, mit Kraft und Würde zu sprechen, wohl wissend, daß die Nomaden Nervosität und Erregung immer als ein Zeichen von Schwäche auslegten; aber in ihrem Inneren tobte ein solcher Sturm von Hoffnung und Bangen, daß ihr zumute war, als summe ein riesiger Bienenschwarm in ihrem Schädel. Sie blickte hinunter auf ihre zitternden Hände. Sei ganz ruhig, sagte sie sich, du darfst dir deine Aufregung nicht anmerken lassen. Gib dich gemessen und königlich in Gegenwart dieser Männer.
Die Krieger trieben ihre Pferde zum Trab an und ritten zu dem Bogen aus bunten Kacheln herauf, der den Eingang zur Stadt markierte. Dann zügelten sie ihre Pferde und starrten zu Marrah hoch. Der eine, der die Kaninchenschwänze trug, fuchtelte demonstrativ mit der Stange, aber es war der älteste unter ihnen, der das Wort übernahm.
»Wir hegen friedliche Absichten.«
»Willkommen«, wiederholte Marrah. »Welche Nachrichten bringt ihr aus dem Norden? « Die Männer starrten sie überrascht an, und sie erinnerte sich zu spät, daß Boten aus der Steppe normalerweise erst einen Begrüßungstrunk abwarteten, bevor sie zu sprechen begannen. Es wäre jedoch niemals ratsam für eine Königin, sich zu entschuldigen oder auch nur andeutungsweise erkennen zu lassen, daß sie sich zu Ungeduld hatte hinreißen lassen; deshalb baute Marrah ohne zu zögern eine diplomatische Brücke. »Ist eure Kehle vom Staub ausgedörrt? « fragte sie in förmlichem Hansi, wie es sich gehörte.
»Unsere Kehlen sind ausgedörrt«, erwiderte der ältere Krieger gravitätisch. Er warf ihr einen anerkennenden Blick zu und blickte dann seine Kameraden an, als wollte er sagen: Seht ihr? Sie weiß, wie man Boten richtig begrüßt, auch wenn sie nur eine Frau ist.
Marrah hatte nicht die Absicht, bewaffnete Krieger nach Shara einzuladen, ganz gleich, wie viele Kaninchenschwänze in Bewegung gesetzt wurden; aber die Sache mit der Erfrischung ließ sich arrangieren. Sie drehte sich um und sah ihre Tante Tarrah neben sich stehen. »Sei so gut und hol mir Wein, Tante«, sagte sie. »Und bitte beeil dich.« Tarrah, die kein Hansi sprach, warf ihr einen verwirrten Blick zu, eilte jedoch davon und erschien wenig später mit einem Krug in der Hand. Marrah musterte den Krug und überlegte, wie sie ihn zu den Kriegern hinunterschaffen sollte. Wenn sie ihn warf, bestand die Gefahr, daß er zerbrach oder, schlimmer noch, einen der Männer am Kopf traf.
»Darf ich mir deinen Gürtel ausleihen?« fragte sie ihre Tante. Tarrah nickte und nahm ihren Gürtel ab; Marrah löste auch ihren eigenen und knotete die beiden Stücke zusammen. Sie band ein Ende an den Griff des Weinkrugs und ließ ihn zu dem älteren Krieger hinunter, der ihn geschickt auffing und den hölzernen Stöpsel mit den Zähnen herauszog. Marrah konnte
Weitere Kostenlose Bücher