Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin
Achseln. »Die Göttin wird zu uns sprechen, wenn sie dazu bereit ist.« Marrah ergab sich ächzend in ihr Schicksal. Es war ein Unglück, daß die Dorfmütter nicht mehr lebten, dafür mußte sie doppelt tapfer sein; falls das Mädchen sie versehentlich vergiftet hatte, dann hatte sie sich damit abzufinden. Irgendwie tat ihr die Kleine leid. Sie war ein dünnes, kränkliches kleines Ding mit großen Augen und einem schmutzigen Gesicht –neun oder höchstens zehn Jahre alt.
»Du hast dein Bestes getan«, sagte Marrah versöhnlich. »Hoffen wir, daß die Göttin dich geleitet hat.« Und dann ging sie davon, um etwas zu finden, was den Geschmack nach roher Raupe aus ihrem Mund vertriebe.
Gegen Mitternacht hatte die Botin noch immer nicht gesprochen. Der Himmel war wolkenverhangen und dunkel; ein kühler Seewind brachte den Geruch von Wasser und großer Ferne mit sich. Um ein kleines Feuer in der Mitte dessen, was einst ein reiches Dorf gewesen war, tanzten seltsam bemalte menschliche Gestalten zum Rhythmus der Trommeln, schlängelten sich durch den Rauch wie Besucher aus einem Reich der Träume.
Die Tänzer trugen keine Kleider, nur die nackte Haut, in der sie geboren waren, und dennoch sah es so aus, als wären sie in mit komplizierten Mustern bestickte Roben gekleidet. Jede Brust, jeder Arm und Ellenbogen, jedes Knie, jede Hüfte, jedes Gesicht war mit feinen roten Linien bemalt, die sich kunstvoll wanden, während sie den Bewegungen von Hüften und Schultern, Fußknöcheln und Handgelenken folgten.
Manchmal ließ der Feuerschein die Tanzenden aussehen, als wären sie in feine Netze aus roten Fäden gehüllt, und wenn sie dann herumwirbelten, die Arme hoben oder den Kopf zurückwarfen, um eine weitere Strophe des Schmetterlingsgebets herauszuschreien, verschwammen die Bemalungen zu Bändern, die in allen Regenbogenfarben schillerten. Ihre Körper schienen sich aufzublähen und die Linien nach innen zu wandern, während sie ihre Bauchnabel mit Kreisen heiliger Energie füllten.
»Chilana!« riefen Marrah und Dalish, als sie Hand in Hand tanzten und mit den Füßen die heiligen Muster auf dem festgestampften Erdboden nachzeichneten.
» Chilana! « antworteten die Dorfbewohner im Chor, als sie sich vornüberkrümmten und sich mit schlängelnden Bewegungen wieder aufrichteten, während sie die letzten losen Fäden des unsichtbaren Schmetterlingskokons verknüpften.
Chilana, die Schmetterlingsgöttin von Shambah, wurde eingeladen, für eine Nacht auf die Erde herniederzukommen, um das Feuer zu flattern und in den Herzen der Tanzenden zu nisten. Der Göttliche Schmetterling, Sanfteste aller Mütter, sie, die den Tod überwindet, wurde gebeten, sich zu zeigen und das zu tun, was kein Mensch konnte: Marrah und den anderen den Weg nach Shambah zu weisen, die Nomaden zu vertreiben und heil und unversehrt aus dem Zusammenstoß hervorzugehen.
» Chilana! « rief Marrah. »Gewähre uns eine Erleuchtung! « Sie hob ihr Gesicht zu dem weißen Fleck am Himmel, wo der Mond hinter grauen Wolken seinerseits wie eine Raupe ruhte, die sich in ihren Kokon eingesponnen hat. Ihre Augen waren halb geschlossen, ihre Lippen leicht geöffnet, als böte sie ihren Mund einem unsichtbaren Liebhaber zum Kuß. Als die Dorfbewohner sie so sahen, glaubten sie, die Botin müsse endlich zu sprechen bereit sein, aber sie irrten sich.
Bis auf die Tatsache, daß sie einen unglaublich bitteren Geschmack in ihrem Mund hinterlassen und ihr Übelkeit verursacht hatte, schien sich die Raupe ohne jede Wirkung in ihren Eingeweiden verloren zu haben. Marrah hatte sich in einen tranceähnlichen Zustand getanzt – etwas, was jede kompetente Priesterin vermochte –, doch es war nur eine leichte Trance und empfindlich störbar.
Sie tanzte weiter, versuchte durch bloße Willensanstrengung, sich in die andere Welt zu versetzen. In ihrer rechten Hand hielt sie die Träne des Mitgefühls, und während sie tanzte, tanzte der kleine Schmetterling, der im Inneren des Bernsteins erstarrt war, mit ihr. Als die Dorfbewohner den Schmetterling erblickten, hatten sie erklärt, Marrah müsse von Chilana geschickt sein, um sie vor den Nomaden zu retten, doch Marrah selbst war nicht davon überzeugt. Die Träne mochte vielleicht ein mächtiger Zauber sein – aber sie hatte zu lange unter den Nomaden gelebt, um zu glauben, daß sie aus Angst davonliefen, bloß weil sie damit vor ihren Gesichtern herumfuchtelte.
»Chilana, hilf uns«, betete sie. »Sag uns, wie wir
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