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Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin

Titel: Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
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die Sklaven befreien können, ohne selbst versklavt zu werden. Sag uns, wie wir die Nomaden zurückschlagen können. Chilana, Heiliger Schmetterling, du, der niemals stirbt, sprich zu uns! «
    Schweiß brach auf ihrer Stirn aus, und ihr Mund wurde trocken vom vielen Singen. Die Zeit verging, und das geisterhafte Wolken-licht des Mondes begann sich weiter nach Westen zu bewegen, aber noch immer geschah nichts. Die Tänzer tanzten unentwegt, das Feuer loderte, die Trommeln dröhnten, aber die Göttin Chilana weigerte sich beharrlich, sich zu ihnen herabzulassen.
    Unterdessen war sich Marrah kaum bewußt, daß die Nacht dahinschwand; doch ab und zu überhörte sie die Musik und erkannte, daß das Ritual ein Mißerfolg war. Dann stolperte sie, geriet aus dem Rhythmus und erwachte mit einem Ruck aus der Trance, um sich von einem Kreis erschöpfter, mit rotem Ocker beschmierter Dorfbewohner umringt zu sehen. Plötzlich wußte sie, daß sich Arang für nichts und wieder nichts die Seele aus dem Leib tanzte und daß Stavan und Hiknak ungeschickt herumtrampelten, während sie die fremden Schrittfolgen nachzutanzen versuchten; sie nahm Greise, kranke Frauen, Kleinkinder wahr, kaum alt genug, um zu laufen, und erkannte, was für einen erbärmlichen, mitleiderregenden Anblick sie alle boten.
    Als der Morgen graute, fühlten sich Marrahs Füße wie Schlamm-klumpen an; der Atem schmerzte in ihren Lungen, und sie hörte, daß ihre eigene Stimme und die der anderen so heiser wie Froschgequake klangen. Sie war knapp davor, aufzugeben und sich erschöpft neben das Feuer fallen zu lassen, als die Raupe endlich in ihr Hirn kletterte und zu sprechen begann.
    Es begann mit einem Summen in ihrem linken Ohr. Das Geräusch war lästig, wie das Summen einer Stechmücke. Oder ... wie Stimmen – viele Stimmen, die alle zugleich flüsterten. Marrah hörte auf zu tanzen, stand vollkommen reglos da und horchte angestrengt. Um sie herum hielten die anderen Tänzer nach und nach inne, die Trommeln verstummten, aber sie war sich dessen nicht bewußt. Alles, was sie hören konnte, war ein dumpfes Gemurmel, wie von einer fernen Menschenmenge, die langsam näherkam.
    Das Murmeln wurde lauter. Plötzlich hatte sie das Gefühl, die Hülle ihres Körpers zu verlassen. Einen Moment erblickte sie sich selbst neben dem Fenster, während sie über der Szene schwebte: eine dickbäuchige, ockerrot bemalte Frau, mit schweißfeuchtem, zerzaustem Haar und nackten Füßen, die vor Schmutz starrten. Dann wurde ihr plötzlich schwarz vor Augen, und gleich darauf sah sie Tausende von Schmetterlingen. Sie waren blau und golden, grün und purpurrot, so wunderschön, daß man sie nicht beschreiben konnte; und alle flogen gemeinsam in einem großen Kreis, der pulsierte und sich drehte wie ein einziges Lebewesen.
    Noch während sie zuschaute, begannen die Schmetterlinge mit süßen Stimmen zu raunen, hoch und klar wie die Stimmen von Kindern. Hör auf das Leben in deinem Inneren, sangen sie.
Dein Mutterleib ist der Kokon, dein Kind der Schmetterling!
Und dann flogen alle auf sie zu und streiften ihren nackten Bauch mit den Spitzen ihrer Flügel.
    Marrah wußte augenblicklich, daß dies die Antwort war, die sie gesucht hatte, und daß sie genau das tun mußte, was die Schmetterlinge befahlen. Sie preßte ihre Handflächen auf ihren Leib und horchte, wobei sie etwas Seltsames sah: nicht ein Gesicht, sondern
zwei,
ein männliches und ein weibliches. Die Gesichter verschmolzen vor ihren Augen miteinander, so daß der weibliche Teil und der männliche Teil jetzt ein Gesicht waren, dann plötzlich wieder zwei, während sie sich vereinten und dann voneinander lösten– so wie sie und Stavan zusammengekommen waren und sich danach wieder voneinander gelöst hatten, nachdem sie ihr Kind gezeugt hatten.
    »Wer bist du?« fragte sie verwundert.
    Das Gesicht, das zwei Gesichter war, lächelte.
Verlaß dich auf die Wahrheit,
sagte es, und dann lachte es ein Lachen, das wie eine erneute zarte Berührung von Schmetterlingsflügeln war.
    »Was meinst du?« fragte Marrah verwirrt. »Bitte erkläre es mir. Ich möchte ja tun, was du verlangst, aber ich verstehe es nicht.«
    Wieder lachte das Gesicht. Es war das Gesicht eines Jungen und eines Mädchens, das Gesicht eines Mannes und einer Frau, es war alle Gesichter, die Marrah jemals gesehen hatte, und alle Gesichter, die jemals existiert hatten, gleichzeitig jedoch das Gesicht von etwas anderem: eines ungeheuren Wesens mit gewaltigen

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