Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin
anderes als Kersek getrunken, eine Art fermentierter Stutenmilch. Wein war eine großartige Errungenschaft. Zuerst hatte er den Geschmack nicht gemocht, aber Wein war sehr viel stärker als Kersek, und wenn ein Mann ein paar Becher davon geleert hatte, fühlte er sich genauso, wie es sich für einen Mann gehörte: warm und mächtig und potent. Und manchmal – obwohl er dies niemals irgend jemandem gestehen würde –fühlte sich Nikhan sogar einen Kopf größer.
Ich sollte immer betrunken sein, dachte er angesäuselt, als er den Kelch schräg neigte und die letzten Tropfen der erlesenen Flüssigkeit seine Kehle hinunterrinnen ließ. Etwas von dem Wein lief an seinem Mund vorbei und tropfte auf sein Kinn, aber er bemerkte es nicht. Er streckte seine rotfleckige Zunge heraus, fuhr sich damit über die Lippen und runzelte die Stirn, als er seine Gedanken zu ordnen versuchte; aber sie schweiften immer wieder in alle Richtungen wie eine Herde dummer Kühe.
Er rülpste abermals und kratzte sich an der Nase, da wurde vorübergehend sein Kopf klar. »Betrunken zu sein ist wie ...« Er kratzte sich noch heftiger. »... wie ein Gott zu sein! Ha!« murmelte er, höchst zufrieden mit sich selbst. »Genau, das ist es! Irgendein Gott hat mich hierhergeführt. Irgendein namenloser Gott, denn der Große Han war mir in meinem ganzen Leben noch kein einziges Mal wohlgesonnen. Irgendein kleiner Hundesohn von Gott ohne Namen hat speziell mir zuliebe seinen Geist in dieses Zeug getan, und morgen werde ich diesem drittklassigen Hundesohn von Wahrsager und Medizinmann befehlen herauszufinden, wer dieser Gott ist, damit ich ihm ein Pferd opfern kann.«
Nikhan war sich durchaus bewußt, daß ein einziges Pferd als Opfer vielleicht beleidigend wirkte; aber er hatte nun einmal nicht sehr viele Pferde mitgebracht und beabsichtigte auf keinen Fall, seine Krieger ihrer Hauptstärke zu berauben. Sein Verstand mochte sich ein wenig drehen, aber sinnlos betrunken war er ganz und gar nicht. Wieder kratzte er sich nachdenklich an der Nase und zerbrach sich den Kopf über das Rätsel des namenlosen Weingottes, der offensichtlich eine besondere Vorliebe für Nikhan vom Stamm der Shubhai hegte.
Dies stellten komplexe und ziemlich philosophische Überlegungen dar für einen Krieger, dessen Intelligenz eher von der praktischen, gerissenen Art war, geschärft durch unzählige kleinere Raubzüge; allerdings hatten die meisten bei scheußlichem Wetter stattgefunden und gegen Feinde, die bereits von einem anderen Angreifer geschwächt waren. All diese Tatsachen setzten sich Stück für Stück in seinem Hirn zusammen, und selbst nachdem er sie gedacht hatte, brauchte er noch eine ganze Weile, um sie in ihrer gesamten Tragweite zu begreifen. Als es schließlich soweit war, lächelte er, wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab und machte dem Sklavenmädchen ein Zeichen, seinen Kelch neu zu füllen.
Das Mädchen war ungefähr zehn Jahre alt, ein bemitleidenswertes, dunkelhaariges, zerlumptes kleines Ding mit einem schmutzigen Gesicht und blauen Flecken auf seinen dünnen Armen. Sie kam herbeigehuscht, hielt dabei den feingearbeiteten shambahnischen Weinkrug so fest umklammert, als hätte sie Angst, ihn fallen zu lassen, und als sie Nikhan anblickte, waren ihre Augen die eines Tieres, das in der Falle sitzt; doch er nahm ebensowenig Notiz von ihr, wie er die einzelnen Steine in der Feuergrube beachtete. Tief war er in Gedanken über seine eigene Genialität versunken.
Ein neuer namenloser Gott. Ja. Bei Han, warum eigentlich nicht? Warum sollte ihn nicht irgendein neuer Gott begünstigen? Schließlich lebte er in einem neuen Land, und auch alles, was er tat, war neu. Er hatte an Dinge gedacht, die noch keinem Mann je in den Sinn gekommen waren, hatte Dinge getan wie niemals einer vor ihm. Allein er hatte erkannt, daß sehr viel mehr zu gewinnen war, wenn man ein paar von den Wilden am Leben ließ, statt sie allesamt zu vernichten; er war derjenige, der auf die Idee gekommen war, Abgaben von den Dorfbewohnern zu fordern; nur er hatte den einmaligen Plan entwickelt, diese Art Festung zu bauen; er war es, der den gefangenen Webern die Wolle der langhaarigen Schafe gegeben und ihnen befohlen hatte, sie zu den feinen Tuniken zu verarbeiten, die er und seine Männer jetzt anstelle der zerschlissenen Fellwesten trugen, die sie aus der Steppe mitgebracht hatten.
Er, Nikhan, Häuptling der Shubhai, hatte persönlich die Schmiede unter den Sklaven
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