Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin
seines Alters zu beleidigen; deshalb saß sie nur da und funkelte ihn aufgebracht an, als sie sich die Spucke aus dem Gesicht wischte.
Der alte Mann sah überrascht aus. »Du sprichst Shambahnisch? «
»Natürlich spreche ich Shambahnisch. Ich bin Marrah aus Shara, die Enkelin der Königin Lalah, auf meinem Weg zurück in die Heimat, und ich wäre dir dankbar, wenn du mich nicht noch einmal anspucken würdest. Es widerspricht jeglicher Gastfreundschaft.« Stavan und Dalish standen auf der Seite und beobachteten die Szene. Stavan hatte Mühe, sich das Lachen zu verkneifen, aber Marrah fand die Sache nicht im geringsten erheiternd.
Der Alte löste seine verschränkten Arme und musterte Marrah, um herauszufinden, ob sie die Wahrheit sprach. »Verehrst du den Dolch oder den Schmetterling?« fragte er argwöhnisch.
»Den Schmetterling. Die Heilige Taube. Die Schlange. Das Reh. Alle heiligen Formen von ihr, die alles ist. Ich bin Priesterin, und wenn du dir die Mühe machen würdest, genauer hinzusehen, würdest du erkennen, daß ich ein Kind erwarte.«
Der alte Mann blickte auf ihren Bauch, und eine verlegene Röte ergoß sich über sein Gesicht. »Ich habe eine schwangere Frau gestoßen«, murmelte er. »Ach du liebe Göttin, was habe ich nur getan? « Tränen stiegen in seine Augen und rollten über die runzligen Wangen. »Verzeih mir. Ich dachte, du wärst eine Nomadin.«
Der Anblick seiner Tränen besänftigte Marrah. »Sind die Nomaden hier durchgeritten?« fragte sie voller Mitgefühl.
Er nickte.
»Was haben sie getrieben, Onkel?«
»Schreckliche Dinge!« jammerte er, und es dauerte eine ganze Weile, bis er sich wieder soweit beruhigte, daß er seine Geschichte erzählen konnte.
Am Ende war es ein kurzer Bericht, nicht schlimmer als Dutzende von anderen, die sie in den folgenden Tagen hören sollten. In dem Dorf hatten ungefähr dreißig Leute gewohnt bis zum letzten Herbst, als gleich nach der Ernte plötzlich Männer auf dem Rücken seltsamer Tiere wie aus dem Nichts aufgetaucht waren. Nachdem sie die Dorfmutter und jeden anderen, der auch nur den geringsten Widerstand leistete, getötet hatten, hatten die Banditen den Dörflern befohlen, ihre sämtlichen Vorräte herauszurücken, ferner die Bögen, mit denen sie jagten, alle ihre Messer und Äxte, schließlich alle Schweine, Ziegen und Kühe.
Dann hatten sie die jungen Männer und Frauen gefangengenommen, sie am Hals zusammengebunden und in den Wald getrieben, während sie die restlichen Dorfbewohner dem Hunger überließen, weil sie nicht mehr jagen konnten und es zu spät war für eine zweite Aussaat. Niemand hatte die Gefangenen mehr wiedergesehen; aber es gingen Gerüchte um, daß sie nach Shambah gebracht worden waren, wo die Nomaden irgendeinen merkwürdigen Tempel zu Ehren eines Gottes bauten, der im Himmel wohnte.
Der alte Mann, dessen Name Klatif war, hatte eine ältere Schwester namens Jaloaj gehabt. Die beiden hatten im Dorfrat gesessen, zusammen mit den anderen Alten, wie es der Brauch war; aber die Nomaden hatten Jaloaj sofort getötet, als sie das Zeichen der Göttin an der Kette um ihren Hals entdeckten.
»Sie haben alle älteren Priesterinnen in den Wald gejagt und sie bei lebendigem Leibe in einem großen Loch vergraben«, sagte der alte Mann, »und dann ...«, seine Stimme brach, und er verbarg sein Gesicht in den Händen, »dann haben sie mir durch ihren Dolmetscher sagen lassen, daß die ›Herrschaft der Frauen‹ vorbei sei und daß
ich
das Dorf von jetzt ab regieren sollte. Zwei Drittel all dessen, was wir anbauen und ernten, soll ich nach Shambah hinunterschicken, damit die Krieger zu essen haben, und wenn ich es nicht tue, werden sie zurückkommen. Aber wir können unsere kleinen Kinder nicht mehr ernähren, wenn wir derart viel abgeben müssen; und wie können wir unsere Felder bestellen, wenn doch alle jungen Leute fort sind und die Nomaden uns alles Saatgut genommen haben? Wir sind ja nur noch so wenige: fünf alte Männer, zwei Frauen, die die Krieger nicht wollten, ein junges Mädchen mit einem Klumpfuß, ein paar Kinder und zwei Säuglinge, die von der Milch einer Ziege leben, die wir zum Glück verstecken konnten.«
Während er sprach, kehrten die Dorfbewohner, die die Szene offensichtlich aus dem Schutz des Waldes beobachtet hatten, nach und nach zurück. Bis der alte Mann seinen Bericht beendet hatte, waren ungefähr ein Dutzend Leute um die kleine Gruppe versammelt – alle entweder zu jung oder zu alt oder zu
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