Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin
ihre Arme waren muskulös und ihre Zehen so stark, daß sie sich mühelos an den Zweigen des Leiterbaums hätte festklammern können, ohne ihre Hände zu Hilfe zu nehmen. Als sie den Kopf in den Nacken legte, um die Mauer zu betrachten, waren ihre dunklen Augen so klar wie die eines Kindes. Sie mochte Arbeit – besonders hartes Ringen. Die Bewohner von Shara verhätschelten ihre Königinnen nicht; man erwartete von ihnen, daß sie genauso kräftig anpackten wie alle anderen, wenn eine Gemeinschaftsaufgabe zu erledigen war.
Und es gab eine Menge Pflichten unter den zweiundsiebzig Familien der Stadt aufzuteilen. Shara war schon seit Generationen eine blühende Hafenstadt und zeremonielles Zentrum. Am westlichen Ufer des Süßwassersees erbaut, lagen seine zwölf Tempel und ungefähr hundert rechteckige Mutterhäuser zwischen einem Fluß und einem Wall von Granitfelsen. Die Stadt war Batal, der Schlangengöttin, geweiht; aber Batals farbenprächtiges Symbol hatte eine Neigung, immer wieder zu verblassen, deshalb strich in dieser Woche jeder Clan auf der Südseite der Stadt sein eigenes Haus, unterstützt von denjenigen, die in einem anderen Bezirk wohnten. Wenn die Arbeit beendet war, würde sich eine glitzernde, mit Schuppen aus Glimmer gesprenkelte, grüngelbe Schlange um die gesamte Stadt herumwinden, und Händler, die die Küste heraufsegelten, würden sie bereits von ihren Booten aus erspähen können.
Wie es an Arbeitstagen üblich war, herrschte ein harmonischer Wirrwarr. Am Fuß des Leiterbaums rannten Lalahs jüngste Enkelkinder hin und her und brachten den Erwachsenen Krüge mit frischer Farbe, wobei jedoch der größte Teil überschwappte und auf ihren Kleidern landete. Links von Lalah hielt sich ihr dickbäuchiger Bruder Nazur mit einer Hand an einem Ast fest, während er heftig mit dem Pinsel in der anderen Hand herumfuchtelte und lauthals protestierte, als Lalahs jüngste Tochter, Tarrah, auf Stellen zeigte, die noch einmal übermalt werden mußten. Auf Lalahs rechter Seite, gleich hinter Bindar, arbeitete Kusine Inhala in einem eleganten Leinenkittel, der nicht mehr zu gebrauchen sein würde, wenn sie erst einmal fertig war.
Inhalas Liebhaber sprachen immer mit Wärme von ihr, aber sie war ziemlich eitel und ging niemals aus dem Haus, ohne sich zu schmücken und zurechtzumachen, als bräche sie zu einem Fest auf. Andererseits kümmerte es Inhala nie sonderlich, wie ihre Liebhaber aussahen, solange sie nur witzig waren und musikalisches Talent besaßen. Barrash, ihr Hauptpartner seit vielen Jahren, war ein Mann mit buschigen, zusammengewachsenen Augenbrauen und großen, fast komischen Ohren; aber er verfügte über die schönste Singstimme der Stadt. An diesem Morgen trug er einen alten Lendenschurz aus Wildleder, der aussah, als hätte er ihn zum Töpfe-schrubben benutzt, was, wenn man Barrash kannte, nur allzu wahrscheinlich war.
Der Anblick von Barrash ließ Lalah mitten in der Arbeit innehalten, den Farbpinsel in der halb erhobenen Hand. Ein Strom von Grün sickerte an ihrem nackten Arm herunter, doch sie war sich dessen kaum bewußt. Sie mochte Barrash sehr, aber in letzter Zeit wurde sie jedesmal schmerzlich an Marrah und Arang erinnert, wenn sie ihn sah. Das war natürlich nicht Barrashs Schuld. Sie war einfach eine alte Frau mit einem zu guten Gedächtnis.
Seit fast zwanzig Jahren hatte sie Barrash als Inhalas Lieblingspartner betrachtet; doch seit Marrah und Arang in den Norden nach Shambah gereist waren, hatte sie sich an die Zeit zu erinnern begonnen, als Barrash der Liebhaber von Marrahs Mutter gewesen war. Barrash und Sabalah waren unzertrennlich gewesen in den Monaten, bevor Sabalah in den Westen ging, und er hatte noch lange danach um sie geweint, bis Inhala beschloß, ihn zu trösten. Zweifellos war er der Mann, der Sabalah geholfen hatte, Marrah zu zeugen – nicht, daß dies ein besonders wichtiger Punkt in Lalahs Erinnerung gewesen wäre, aber sein Gesicht wies eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Marrahs auf, besonders was die Augen und den störrischen Zug um das Kinn betraf.
Zweifellos war Barrash schon vor langer Zeit über Sabalahs Verlust hinweggekommen – oder hatte sie zumindest in jenen Teil seines Bewußtseins geschoben, wo die Erinnerungen an die Jugend lagerten; aber wenn Lalah ihn sah, dachte sie oft an die auf ewig verschwundene Tochter und dann an die Enkelin und den Enkel, die ebenfalls in die Fremde gezogen waren. Sabalah, Arang und Marrah – drei geliebte
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