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Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin

Titel: Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
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ich schon alle Hoffnung aufgegeben hatte,
    schickte mir die Göttin den Frühling.
    Sie hüllte sich in einen grünen Schal
    und befahl mir zu tanzen.
     
    Die Knospen sind dick,
    und die Zweige sind rot,
    der Wald ist eine Mauer gegen den Wind.
     
    Gelobt sei die Göttin,
    die die Graugänse über den Himmel ziehen läßt,
    gelobt sei sie,
    die die Frösche singen läßt.
    Gelobt sei die Süße Mutter,
    die mich vor den Nomaden rettete
    und mir das Lachen zurückbrachte,
    das ich für immer verloren geglaubt ...
     
    Aus »Dalishs Lied«. Schwarzmeerküste. 5. Jahrtausend v. Chr.
     

5. KAPITEL
     
    Die Stadt Shara, 4367 v. Chr.
     
    An einem warmen Morgen im Frühsommer stand Marrahs Großmutter, Lalah, barfuß auf einem Leiterbaum an der Außenmauer von Shara und malte eine der Windungen der Großen Schlange der Zeit. Die Schlange, die von Haus zu Haus durch den gesamten Süden der Stadt verlief, war ein Sinnbild der Zeit, so wie die Bewohner von Shara sie erlebten: Die Vergangenheit begann am Schwanz, die Gegenwart war in der Mitte, und die Zukunft wurde durch den dreieckigen Kopf der Schlange symbolisiert sowie durch ihre rote, gespaltene Zunge, die in das Unbekannte hinauszüngelte.
    Im Zentrum der Stadt gab es noch eine Schlange, aus blauen und orangefarbenen Ziegeln gepflastert, die rund um den zentralen Versammlungsplatz lief und sich in ihren eigenen Schwanz biß. Diese hieß die Schlange der Ewigkeit; sie stellte die Zeit dar, wie sie
wirklich
war: eine ununterbrochene, nie endende Folge von Leben auf Leben, Jahreszeit auf Jahreszeit. Jedes Kind wußte, daß die Zeit in Wirklichkeit einen Kreis bildete; doch jedes Kind wußte auch, daß die Menschen sie nicht auf diese Weise sehen konnten, deshalb behielten die Sharaner beide Schlangen, um sich stets daran zu erinnern.
    Lalah trug noch etwas mehr Farbe auf, hielt sich an einem der Zweige der Leiter fest und lehnte sich ein wenig zurück, um den Fortschritt zu begutachten, den ihre Arbeit machte. Zu ihrer Rechten pinselte ihr ältester Bruder, Bindar, mit großer Konzentration an dem Schlangenkörper, und er blinzelte, als er sorgsam einen schmalen Streifen Gelb auf den Bildabschnitt vor sich auftrug. Die Stelle war nicht viel größer als seine Hand, aber er malte schon fast den halben Morgen daran herum.
    Lalah seufzte und widerstand dem Drang, ihn zur Eile anzutreiben. Bindar saß mit ihr im Rat der Ältesten und hatte ihr immer geholfen, die Stadt zu regieren, seit sie Priester-Königin war. Es gab keinen Mann auf der Welt, der mehr Geschick und Gefühl für Einzelheiten gehabt hätte als Bindar; er war jedoch auch der langsamste Arbeiter, den Lalah je erlebt hatte. Als Meistertöpfer von wundervollen Vasen und Bechern gereichte er der Stadt zum Stolz. Wahrscheinlich gab es keinen größeren Künstler als ihn südlich des Rauchflusses, aber er war entschieden nicht die Person, die man bitten sollte, einem beim Bemalen einer Mauer zu helfen. Die Schlange der Zeit sollte eigentlich fertig sein, bevor die Pilger zum Fest des Sommermondes in die Stadt zu strömen begannen; doch bei dem Tempo, das Bindar vorlegte, würde es wahrscheinlich Winter werden, bis seine Arbeit getan war.
    Lalah tauchte ihren Pinsel in den kleinen Tonkrug, der an ihrem Gürtel hing, und machte sich erneut ans Werk, während sie schwungvoll grüne Farbe auf die Schlangenlinien kleckste. Sie trug ein altes Lendentuch aus Leinen und nicht viel mehr, denn sie arbeitete gerne halbnackt, weil es ihr ein Gefühl der Freiheit verschaffte. Ihr lockiges graues Haar war mit einem Lederband zurückgebunden, was es jedoch nicht vor Farbspritzern bewahrt hatte. Im Moment prangten grüne Flecken auf ihren Brüsten, ihren nackten Füßen und auf ihrer Nasenspitze – von den Händen ganz zu schweigen, die aussahen, als hätte sie sie direkt in den Farbkrug getaucht.
    Schmutzig mochte sie ja sein, aber sie war akkurat in ihrer Arbeit. Der Schlangenkörper erwachte zum Leben unter ihren geschickten Händen, als sie sich vom oberen zum unteren Rand vorwärts pinselte. Einmal hielt sie kurz inne, um nach mehr Farbe zu rufen, aber ansonsten arbeitete sie ausdauernd und mit der Energie eines Menschen, der nur halb so alt war wie sie. Lalah stellte eine bemerkenswerte Figur zur Schau für eine Frau im fünften Lebensjahrzehnt: Sie hatte die hängenden Brüste einer Frau, die fünf Kinder gestillt hatte, kombiniert mit der liebenswerten Molligkeit und dem runden Bauch zufriedener älterer Menschen; aber

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