Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin
Zeit, diese Güte aufzugreifen. »Sei's drum, ich schwöre! « murmelte er finster.
Und das tat er. Nikhan, Häuptling der Shubhai, kniete vor Stavan nieder und schwor im Namen von Han, Gott des Leuchtenden Himmels, seinen Häuptling gegen alle Feinde zu verteidigen, ihm in allen Dingen zu gehorchen und ihm für immer treu zu sein. Danach ließ Stavan die Wachen niederknien und sie schwören, das Geheimnis ihres Häuptlings zu bewahren, aber Stavan hätte sich seinen Atem ebensogut sparen können. Die Geschichte war einfach zu köstlich.
Die shambahnische Sängerin, als Zeugin all dessen, raunte am nächsten Nachmittag eine neue Ballade mit dem Titel »Nikhan und die schwangeren Krieger«. Das Lied war obszön, beleidigend und so witzig, daß Marrah sich fast krank lachte, als sie es das erste Mal hörte. Mit der Zeit wurde es überall entlang der Küste des Süßwassersees gesungen. Sobald Nikhan seine Krieger informierte, daß er Zuhans Sohn Treue geschworen hatte, wurde Stavan praktisch zum Häuptling der Shubhai.
»Legt eure Waffen nieder«, befahl er, und die Krieger gehorchten.
»Laßt die Sklaven frei«, sagte er, und sie rannten hinaus, um die Tore der Gefangenenquartiere zu öffnen.
Die shambahnischen Sklaven waren in einem beklagenswerten Zustand. Monatelang hatten ihnen die Nomaden nur Reste zu essen gegeben, hatten sie geschlagen und sie grausam mißbraucht. Es waren vielleicht vierzig Frauen und ungefähr halb so viele Männer – alle völlig verwahrlost und mit Läusen bedeckt. Viele von ihnen kränkelten vor sich hin, und alle hatten Freunde oder Verwandte an die Invasoren verloren. Aber kein Volk war versöhnlicher als die Shambahner oder zu spontanerer Freude fähig; und als sie sich lachend und weinend vor Erleichterung um Marrah drängten, wußte sie, daß diese Leute irgendwie die Kraft finden würden, ihre Stadt wiederaufzubauen, sobald die Nomaden abgezogen waren; daher lachte und weinte sie mit ihnen und half ihnen Feuer anzünden, um sich zu wärmen; außerdem sorgte sie dafür, daß sie das beste Essen im Lager bekamen.
Am nächsten Morgen wanderten mehrere der Kinder durch die Ruinen der Stadt und pflückten Schmetterlingsblumen. Sie flochten die purpurroten und weißen Blüten zu langen Ketten und schlangen sie um ihre Körper; dann tanzten sie, während die Erwachsenen zuschauten, den Schmetterlingstanz. Das Fest war zwar schon eine ganze Weile überfällig, und es gab auch keine Honigkuchen oder Flügel aus Gaze, aber sie hatten Trommeln und eine Harfe. Die Erwachsenen standen im Kreis um sie herum und klatschten fröhlich singend in die Hände.
Als Marrah die Kinder beobachtete, stiegen ihr Tränen in die Augen. Ihre Gesichter waren mager und verhärmt, ihre Arme und Beine ragten furchtbar dünn aus den lumpigen Kleidern; dennoch lachten sie übermütig und neckten einander wie Kinder überall auf der Welt. Mit Kindern wie diesen – wer konnte da noch zweifeln, daß Shambah aus der Asche auferstehen würde?
Am nächsten Tag befahl Stavan den Nomaden, die Festung in Brand zu stecken, und alle schauten zu, wie sie bis auf die Grundmauern niederbrannte. Die Flammen leckten an den spitzen Pfählen des Walls und verzehrten die Dornenranken; sie züngelten durch die Schießscharten und fraßen sich in die Simse, wo noch vor kurzem die Wachtposten gestanden hatten. Prasselnd brausten sie durch den Raum, wo Nikhan aus dem goldenen Kelch der Göttin Chilana getrunken hatte, und färbten die leeren Weinkrüge schwarz. Zwei Feuermeere wüteten in verschiedene Richtungen: eines nach Norden und eines nach Süden. Marrah stand da, während sie ihr Gesicht vor der glühenden Hitze abschirmte und beobachtete, wie die Flammen im Wind loderten, die aussahen wie die feurigen Flügel eines gewaltigen Schmetterlings.
Als das Fort nur noch aus einem Haufen glimmender Asche bestand, befahl Stavan Nikhan und seinen Kriegern, in die Steppe zurückzukehren, ihr Lager an der Grenze aufzuschlagen und die Mutterländer gegen Nomadenüberfälle zu verteidigen.
Nikhan gehorchte ohne ein Wort des Protests. Den ganzen Nachmittag über trieben seine Männer die Pferde zusammen und packten ihre Satteltaschen. Als sie fertig waren, hängten sie sich ihre Bögen über den Rücken, schnallten sich ihre Köcher an die Schenkel, streuten Erde auf die Lagerfeuer und ritten davon. Bis zum frühen Abend waren alle verschwunden, und Shambah gehörte wieder den Shambahnern.
ZWEITES BUCH
Die Mutterländer
Als
Weitere Kostenlose Bücher