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Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin

Titel: Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
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halten.
    Lalah kletterte den Leiterbaum hinunter, warf ihren Pinsel auf den Boden und griff nach einem der Wasserkrüge, um ihren Durst zu stillen. Dann kehrte sie ihrem Haus den Rücken zu, schob einen kleinen Abschnitt des Riedgraszauns zur Seite, der die Stadt von den Feldern trennte, und trat durch die Lücke. Der Zaun war gebaut worden, damit nicht die Tiere durch die Straßen wanderten, was bei den Schafen und Kühen auch durchaus gelang; aber er war relativ niedrig, beispielsweise Ziegen sprangen leicht drüber hinweg und stellten allerlei Schabernack an. Erst letzte Woche hatte es eine Ziege fertiggebracht, den größten Teil eines Leintuches zu fressen und einen ganzen Korb gedörrter Pflaumen – sowohl den Inhalt als auch den Korb –, bevor es irgend jemand bemerkte. Als Lalah jetzt das Feld zwischen den beiden Seiten des Zauns überquerte, dachte sie vielleicht zum hundertsten Mal, daß sie wirklich bald eine Arbeitsmannschaft zusammentrommeln sollte, um den Zaun zu erhöhen.
    Vorübergehend blieb sie stehen und starrte auf die Granitfelsen, die südlich der Stadt aufragten. Von hier aus konnte sie die brustförmige Kuppel des Tempels der Kinderträume sehen, der auf einem breiten Felsvorsprung neben der heißen Quelle erbaut war –das Ziel der Pilger, um zu baden und geheilt zu werden. Marrah hatte den Tempel nach dem Vorbild eines anderen entworfen, den sie auf ihrer ersten fernen Reise gesehen hatte, und Bindar hatte ihn gebaut. Es gab ein Dutzend Tempel in Shara, doch kein anderer war so schön. Von hier aus konnte man zwar gerade den Schlangenkopf von Batal erkennen, aber nicht die Muster, die die Kinder in den feuchten Ton geritzt hatten, oder die Abdrücke ihrer kleinen Hände.
    Lalah riß sich energisch zusammen. Heute erinnerte sie alles und jedes an Marrah. Hör auf zu grübeln, befahl sie sich. Sie drehte sich um und blickte auf die Stadt zurück. Die Schlange der Zeit wurde von Augenblick zu Augenblick schöner und leuchtender. Es war schon eine ganze Weile her, seit sie sie so gründlich aufpoliert hatten, und jetzt sah sie prächtig aus, wie Lalah zugeben mußte.
    Jedesmal bedeutete es viel Arbeit, die verblaßte Malerei wieder in Ordnung zu bringen. Auf der Südseite der Stadt gab es ungefähr dreißig Mutterhäuser, mit weißem Stuck verputzt und mit Farbe und Kristallsplittern dekoriert. Auf jedem Haus prangte eine einzelne Windung der Schlange, und im Inneren jeder Windung war eine Szene aus der Vergangenheit dargestellt. Jeder konnte die Windungen mit dem Pinsel nachziehen, aber nur Künstler wie Bindar durften die Wandgemälde ausbessern.
    Die gesamte Geschichte der Welt war in jenen Bildern veranschaulicht: Die erste Windung der Schlange zeigte die Eisigen Zeiten, als Eis das Land bedeckte; die zweite stellte den Großen Frühling dar, als das Eis schmolz und die drei Göttlichen Schwestern auf die Erde gekommen waren, um die Menschen zu lehren, wie man Getreide anbaute, webte und Tiere aufzog; die dritte zeigte die Stadt Shara, wie sie aus einem von Batals Eiern schlüpfte. Und so wand sich die Schlange immer weiter von Haus zu Haus, bis in die Gegenwart.
    Lalahs Mutter, Großmutter, Urgroßmutter und alle ihre Urahninnen waren dort abgebildet: Priester-Königinnen, auserwählt, um für das geistige und körperliche Wohlergehen ihrer Schutzbefohlenen zu sorgen. Sie standen niemals allein, sondern immer neben ihren Brüdern. Die Brüder waren so ausgeführt, daß sie wie richtige Menschen aussahen; die Königinnen dagegen waren abstrakt dargestellt; breithüftige Gestalten, um deren Köpfe Vögel flatterten, ihre Arme um die Hälse von Löwen geschlungen, mit Blumen im Haar und Schmetterlingen in den Händen.
    In einer der Windungen der Schlange tanzten die Priester-Königinnen und ihre Brüder mit Kindern; in einer anderen saßen sie zu Füßen ihrer Ältesten; hier webten und töpferten sie; dort arbeiteten sie mit entblößten Armen auf den Feldern und ernteten den Weizen.
    Auf anderen Bildern brachten sie Batal Opfer dar oder berieten sich mit dem Ältestenrat, während sie auf wieder anderen am Boden knieten, um Brotteig zu kneten oder Kinder zu gebären. In Shara dienten eine Königin und ihr Bruder ihrem Volk eher, statt es zu regieren. Man erwartete von ihnen, daß sie auch der Göttin Erde und ihren Tieren dienten und ihr Leben für sie opferten, wenn es unumgänglich war.
    Lalah starrte auf den Schwanz der Schlange und dachte daran, seit wie vielen Generationen sie sich

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