Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin
entgegenbrachte; denn während der folgenden Tage hatte Marrah nur sehr wenig Zeit, ihm bei der Eingewöhnung zu helfen. Zwei Abende nach der Ratsversammlung setzten bei ihr verfrühte Wehen ein, wahrscheinlich ausgelöst durch die Strapazen der langen Reise zu Pferde, wie die Hebammen erklärten. Sobald ihre Fruchtblase geplatzt war, geleiteten ihre Großmutter und ihre Tanten sie zu dem Tempel, wo die Kinder zur Welt kamen.
Marrah war schon viele Male zuvor in dem Gebärtempel gewesen, um anderen Frauen bei der Geburt ihrer Kinder beizustehen, und sie kannte ihn gut. Es war ein kleiner, heiterer Ort: Wände und Fußboden waren mit glattem roten Ton verputzt und mit den Zickzacklinien und Spiralen der Wasser des Lebens dekoriert, in denen alles Leben seinen Ursprung hatte. An der Decke wachten die heiligen Tiere über die zukünftige Mutter: Frösche und Igel, Störche, Reiher, Kaninchen, Fische, Rehe, Hunde und natürlich Schlangen, so daß Marrah, wenn sie hinaufschaute, eine ganze Menagerie auf sich herunterblicken sah, die ihr Glück wünschte.
Der Tempel war uralten Erfahrungen gemäß errichtet worden.
Um die Ruheplattform hatte man flache Abflußrinnen angebracht, so daß alles mühelos saubergehalten werden konnte; es gab große Krüge mit frischem Wasser, ein Kohlenöfchen, auf dem ein Topf warmer Brühe stand und ein anderer Topf mit heißem Wasser für Kräutertee – selbst einen Wandschirm, falls Marrah sich zwischendurch sammeln wollte.
Aber der wichtigste Gegenstand im ganzen Raum war der Gebärstuhl, der schon seit Generationen von den Frauen in Shara benutzt wurde. Wenn der Zeitpunkt der Entbindung gekommen war, würde Marrah auf dem Stuhl sitzen und sich in die Arme ihrer Großmutter zurücklehnen, die Schenkel so weit wie möglich gespreizt. Eine der Hebammen würde auf einem sehr niedrigen Hocker vor ihr sitzen, um das Kind in Empfang zu nehmen. Marrah würde pressen, wenn sie ihr zu pressen befahlen, und – wenn die Zeit gekommen war – ihr Kind durch die vulvaförmige Öffnung im Sitz entbinden. Die Sharaner nannten den Stuhl das Tor des Lebens, aber das wirkliche Tor des Lebens, so versicherten die Hebammen Marrah, bildete die Mutter selbst.
Wie häufig beim ersten Kind machten die Wehen ihr ziemlich zu schaffen, aber es war auch eine gewisse Ekstase damit verbunden. Die meiste Zeit wollte Marrah den Geburtsvorgang einfach so schnell wie möglich hinter sich bringen, doch es gab auch beinahe wohlige Augenblicke. Die ganze Nacht über und bis in den Vormittag hinein wuschen die Hebammen ihre Stirn mit warmem Wasser, rieben ihren Bauch mit parfümierten Ölen ein und ermunterten sie, so tief und ruhig zu atmen, wie sie konnte. Manchmal stimmten sie Lobgesänge auf die Göttin an, und manchmal traten sie einfach zurück und ließen Marrah tun, wonach ihr Körper verlangte.
Die Frauen besaßen reiche Erfahrung mit Entbindungen, nachdem sie bereits Hunderte von Kindern auf die Welt geholt hatten; sie beobachteten Marrah aufmerksam, ließen sie immer wieder ein paar Schritte auf- und abgehen zwischen zwei Wehen und fütterten sie mit einer speziellen Kraftbrühe aus Rindfleischknochen und Kräutern.
»Wir glauben, du wirst eine große Überraschung erleben«, erklärten sie ihr. Und als Marrah nervös fragte, ob denn irgend etwas nicht stimme, lachten die Frauen und sagten ihr, sie solle nur Mut haben – schließlich sei sie eine kerngesunde junge Frau, und die Göttin habe ein besonderes Geschenk für sie.
Zu Marrahs Erstaunen entpuppte sich das göttliche Geschenk als ein zweites Kind. Kurz vor Mittag führten die Hebammen sie zu dem Gebärstuhl, und dort brachte sie in rascher Folge Zwillinge zur Welt: ein schreiendes Mädchen mit braunen Augen und Haaren, so dunkel wie ihre eigenen, und einen ruhigen Jungen mit Haar von der Farbe reifen Weizens und Augen wie Kastanien.
Die Kinder waren klein, aber kräftig und wohlgestaltet, und als Marrah die beiden Neugeborenen an ihre Brüste legte, um sie zum ersten Mal trinken zu lassen, erkannte sie, daß sie sich von den Kindern ihres Volkes unterschieden. Sie verkörperten einen Teil von ihr und einen Teil von Stavan. Ihre Vorfahren waren sowohl Mutterleute als auch Nomaden, und als sie ihre Kinder küßte, ihre winzigen Finger in ihre nahm und ihre weichen, glatten Körper fühlte, betete sie zur Göttin, daß trotz aller Gegensätze Frieden zwischen den beiden herrschen möge.
Es war nicht üblich, Kindern schon im ersten Lebensmonat Namen
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