Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin
eigenen Mütter hassen, oder? Diese Männer sind doch auch einmal Kinder gewesen, und ihre Mütter müssen sie versorgt und behütet und getröstet haben, so wie es alle Mütter tun.«
»Stavan kann euch mehr darüber erzählen, wie es ist, ein Nomadenkind zu sein«, erwiderte Marrah. »Aber ihr werdet ihm Gelegenheit geben müssen zu beenden, was er zu sagen hat, bevor ihr wieder gleich anfangt, ihn niederzuschreien.«
»Laßt ihn sprechen«, sagte Lalah. Sie bedachte die Ratsmitglieder mit einem strengen Blick. »Und dieses Mal achte ich wirklich darauf, daß er nicht unterbrochen wird.«
»Danke.« Stavan legte eine Pause ein und blickte die Ältesten an. Marrah sah Stolz in seinen Augen funkeln und ein klein wenig Zorn; doch als er anhub, klang seine Stimme ruhig und vernünftig. »Die Angehörigen meines Volkes lieben ihre Mütter wirklich, solange sie noch Kinder sind; aber wenn sie älter werden, bringt man ihnen bei, Frauen zu verachten. Im Grasmeer schämen sich Männer zuzugeben, daß sie irgendeine Frau lieben – selbst die eine, die ihnen das Leben geschenkt hat. Liebe wird als Gefühl der Schwäche ausgelegt, als etwas, das eines Kriegers nicht würdig ist: Der muß lernen zu töten, ohne mit der Wimper zu zucken, und seine Feinde abzuschlachten, ohne Schuldgefühle oder Reue zu empfinden. Die Hansi haben ein Sprichwort: ›Liebe ist ein Wahnsinn, der einen starken Mann schwach macht.«
Er legte Marrah einen Arm um die Schultern. »Ich verstehe diese Redensart, weil ich früher ebenfalls Hansi-Krieger war, und auch ich schämte mich, irgend etwas anderes als Angriffslust zu fühlen. Aber jetzt bin ich stolz, hier vor euch allen zu stehen und offen zu sagen, wie sehr ich Marrah liebe und das Kind, das sie erwartet.«
Dakar hatte während dieser Debatte auf seinem Platz gesessen. Er litt unter einer Gelenkerkrankung, die es sehr schmerzhaft für ihn machte zu stehen. Er war in den Achtzigern, und als er sich langsam mit Hilfe eines Stockes hochzog, verstummten alle. Sich räuspernd stand er einen Moment da, während er Marrah und Stavan schweigend musterte. Sein Gesicht war von tiefen Runzeln durchzogen, und seine Hände zitterten leicht, aber er besaß sehr viel Würde. Er war der älteste Mann in der Stadt und als Hüter der Männerriten derjenige, der am meisten Respekt genoß.
»Meine Mutter starb vor fünfzig Jahren«, begann er, »und es gab nicht einen Tag während dieser langen Zeit, an dem ich sie nicht vermißt hätte. Eine Mutter ist eine der größten Segnungen, die ein Mann hat. Ich würde meinen rechten Arm dafür hergeben, um die Stimme meiner Mutter noch einmal zu vernehmen, und mein Augenlicht, nur um ihre Berührung zu fühlen.« Seine Stimme brach, er hielt inne, und ringsum breitete sich eine solche Stille aus, daß Marrah Stavan neben sich atmen hören konnte.
»Ein Mann, der seine Mutter und seinen Aita nicht liebt, kann niemanden lieben«, fuhr Dakar fort. Er blickte Stavan an und schüttelte den Kopf. »Wenn deine Leute nicht so gewalttätig wären, würde ich sie bemitleiden. Bindar hat recht, sie sind beides, verrückt und verflucht, und im Namen der Göttin, die alles heilt, spreche ich dir meine Bewunderung aus für deine mutige Entscheidung, dich von ihnen loszusagen.«
Er drehte sich um und lehnte seinen Stock gegen einen der Stützpfosten des Sonnensegels. »Wir sind heute nicht besonders freundlich zu dir gewesen und alles andere als höflich«, fuhr er fort. »Tatsächlich müssen wir wohl alle zugeben, daß wir dich beleidigt haben. Ich möchte mich im Namen des Ältestenrates für jene Kränkungen bei dir entschuldigen.« Er legte seine zitternden Hände zum Zeichen der Göttin zusammen. »Willkommen in unserer Stadt, Stavan der Nomade! Mögen unsere Familien deine Familie werden; möge die Mutter aller deine Mutter werden; und möge dir ein langes und glückliches Leben unter uns beschieden sein.«
Dakars freundliche Worte waren nicht das Ende der Ratsversammlung, aber sie bestimmten den Ton aller weiteren Erörterungen. Bis der Mond über dem Süßwassersee aufstieg, hatten die Ältesten Marrahs ganze Geschichte gehört und hätten eigentlich mehr Grund als je zuvor gehabt, die Nomaden zu hassen – doch als sie auseinandergingen, trat jeder einzelne der neun vor und küßte Stavan förmlich auf beide Wangen.
»Sei von Herzen gegrüßt in Shara«, sagten sie und umarmten ihn, als wäre er einer der Ihren.
Es war nur gut, daß die Stadt Stavan Wohlwollen
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