Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin
zu geben; aber als die Zwillinge vier Wochen damit verbracht hatten, zu trinken und dick und rund zu werden, nannte Marrah das Mädchen Luma nach einer von Stavans Schwestern (tatsächlich hatte seine Schwester Luminkak geheißen, aber das war doch ein ziemlicher Zungenbrecher). Der Junge sollte Keru heißen nach einem ihrer Großonkel, und wie versprochen bat sie Stavan, der Aita der beiden Kinder zu sein, obwohl sie damit fast so etwas wie einen Aufruhr auslöste.
»Dein Bruder Arang sollte der Aita deiner Kinder sein, wie es bei uns Brauch ist«, informierten mehrere Leute sie entrüstet, »und nicht irgendein Nomadenfremdling, der auf seltsamen Tieren reitet.« Aber Marrah sah nicht ein, wieso dies jemanden anders etwas anging, und Lalah unterstützte sie in ihrem Standpunkt.
»Wir haben immer die Überzeugung vertreten, daß eine Frau das Recht hat, jeden Mann zum Aita ihres Kindes zu machen, den sie für geeignet hält«, erklärte Lalah. »Und deshalb befehle ich euch allen als Königin dieser Stadt, eure Nasen aus Marrahs Privatangelegenheiten herauszuhalten«, ordnete sie in aller Öffentlichkeit während des Fests des Sommermondes an, damit jeder in der Stadt sie hören konnte. Falls danach noch irgend jemand der Meinung war, als Nomade tauge Stavan nicht zum Aita, so sagte es jedenfalls keiner – zumindet nicht in Marrahs Anwesenheit.
Und was Arang betraf – der war vollauf damit einverstanden, daß Marrah Stavan die Verantwortung für Luma und Keru übertrug. Hiknak hatte Arang nämlich versprochen, ihn zum Aita ihres Kindes zu machen, und drei Kinder bedeuteten zuviel Plage für einen Jüngling, der erst seit einem knappen Jahr ein Mann war.
Der Sommer eilte dahin, und die Zwillinge gediehen prächtig dank Marrahs Milch. Nicht lange nach der Herbst-Tagundnachtgleiche gebar Hiknak ein kleines Mädchen, das sie Keshna nannte.
Wie Luma und Keru vereinigte auch Keshna Elemente aus dem Norden und dem Süden. Ihr Haar war braun, aber im richtigen Licht betrachtet besaß es einen rötlichen Schimmer, wie ihn noch keiner je zuvor gesehen hatte: mit ihrer zarten Haut und ihren Augen so schwarz wie der Himmel in einer mondlosen Nacht war sie ein außergewöhnlich schönes Kind; aber besonders fiel sie auf durch ihre furchtlose Art. Keshna schien Hiknaks Wildheit geerbt zu haben, und sobald sie krabbeln konnte, mußte man sie ständig davor bewahren, daß sie eine Treppe hinunterstürzte oder einen Topf kochender Suppe von der Feuerstelle riß und sich daran verbrühte. Sie schrie fast nie, wenn Fremde sie auf den Arm nahmen, und selbst größter Lärm erschreckte sie nicht.
Marrah dachte insgeheim, daß Keshna mit ihrem Tatendrang und ihrer Tapferkeit die geborene Kriegerin war, aber sie sagte nichts zu Hiknak. Statt dessen betete sie zur Göttin, daß sich die Hansi weiterhin untereinander bekämpfen würden und daß Nichan sein Versprechen halten, nämlich die Mutterländer vor feindlichen Kriegerverbänden beschützen möge. Sie wünschte sich, daß Keshna, Luma und Keru in einer Welt aufwuchsen, wo Krieg nicht existierte und das Wort »Krieger« nicht mehr Sinn ergab als das Bellen der Hunde – aber schon entstanden in der Steppe neue Unruhen, die die Nomaden wieder nach Südwesten trieben.
6. KAPITEL
In der ukrainischen Steppe, 4367 v. Chr.
Sammle bittere Pilze und nimm sie in den Mund. Sammle heilige Pilze, auf Kot und Verwesung gewachsen. Du bist Changar, der große Hansi-Schamane und Wahrsager, Changar, der eigentlich tot sein sollte. Du bist Changar, der den Sturz in Zuhans Grab überlebte; Changar mit dem gebrochenen Rückgrat; Changar, dessen Beine zerschmettert sind; Changar, der nur in Träumen und Visionen laufen kann; Changar mit den grünen Augen eines Wolfes, die Vlahan angst machen; Changar, der in der Traumwelt jagt.
Manchmal, wenn du die heiligen Pilze ißt, kannst du Schädel und Gebeine sehen. Manchmal kannst du den Tod sehen. Du kannst sogar den Staub sehen, der eines Tages deinen Mund füllen wird, und den Staub, der Vlahans Mund und die Münder aller deiner Feinde füllen wird, aber es ist nicht der Tod, den du suchst. Du suchst nach der Hexe, die dich deiner Beine beraubt hat, und sie heißt Marrah!
Deine Gehilfen füttern dich mit den Pilzen, und sie singen, während sie sie auf deine Zunge legen. Die Pilze sehen wie gedörrtes Fleisch aus, wie verschrumpelte Hoden, sehen wie der Moder aus, dem sie entsprossen sind. Deine Gehilfen bringen dir eine Ziege, deren
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