Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin
Zeit werden, den beiden zu essen zu geben und sie zu einem kurzen Mittagsschlaf hinzulegen –obwohl Hiknak nicht erwartete, daß sie viel von dem Brot und dem Käse essen würden, die sie in einem Lederbeutel mitgebracht hatte; zum Schlafen käme es wohl auch kaum. Wenn es zwei Kinder auf der Welt gab, die mehr als Keshna und Keru schwatzten, dann war Hiknak ihnen jedenfalls noch nicht begegnet.
»Geht nicht zu weit ins Wasser hinein«, warnte sie die beiden zum mindestens zehnten Mal an diesem Morgen. Keshna und Keru nickten unschuldig, als wäre ihnen dieser Gedanke noch nie gekommen, obwohl Hiknak genau wußte, daß sie darauf brannten, schwimmen zu gehen. Sie sind wie richtige Fische, dachte sie, ich dagegen ein Stein, der sofort versinkt, wenn ich es auch nur versuche. Nein, sollen sie sich ruhig noch eine Weile gedulden. Marrah kann sie ja später zum Strand mitnehmen und sie wieder herausziehen, wenn die Wellen über ihren Köpfen zusammenschlagen.
Sie schauderte leicht bei dem Gedanken an ihre kläglichen Schwimmversuche, inspizierte aber trotzdem den Fluß und entschied, daß sie ihm hier ebenso sehr mißtraute wie an der Stelle, wo sie vorher gewesen waren. Sie pflückten dicht am Ufer, wo die dunkelgrünen Ranken des Brombeerdickichts den Wald säumten. Das Wasser war seicht und warm, wo sie standen, aber zur Flußmitte hin verstärkte sich die Strömung, und das Wasser floß in großen, schäumenden Strudeln dahin.
Eine Zeitlang war kein Laut zu hören außer dem Plappern der Kinder und dem gedämpften Geräusch von Beeren, die in ihren Korb fielen. Hiknak griff nach einem besonderen Prachtstück und stach sich prompt den Daumen an einem spitzen Dorn.
»Autsch!« quietschte sie und steckte ihn mit unmißverständlichen Flüchen in den Mund, um daran zu saugen, bis der Schmerz aufhörte. Sie war gerade im Begriff, ein zweitesmal nach der prallen Beere zu greifen, als plötzlich zwei schrille Schreie die Stille zerrissen.
»Hiknak!«
»Hilfe! «
Erschrocken wirbelte sie herum, und Beeren flogen wie Regen in den Fluß.
»Mama! «
»Hiknak! «
Sofort sah sie die Kinder. Sie versuchten, zu ihr zu gelangen, aber das Wasser reichte ihnen bis über die Knie; deshalb stolperten sie immer wieder, während sie sich mit ausgestreckten Armen vorwärtskämpften und doch nicht von der Stelle kamen. Hinter ihnen galoppierten vier bewaffnete Krieger durch das flache Wasser am Ufer entlang und hetzten sie wie Kaninchen.
»Lauft!« schrie Hiknak. »Lauft!« Sie schleuderte ihren Korb fort und bewegte sich auf die Kinder zu, doch das Wasser behinderte auch sie, zog sie an den Beinen zurück. Einen Moment lang, der ihr wie eine Ewigkeit vorkam, stemmte sie sich gegen die Strömung, gefangen in einem Alptraum aus ihrer Kindheit. Keru und Keshna stießen dieselben schrillen Schreie höchster Angst aus wie damals ihre jüngeren Geschwister an jenem Tag, als die Hansi das Lager ihres Vaters überfallen und alle ihre Angehörigen getötet hatten.
»Mama! «
»Hiknak!«
Das Wasser sog und zerrte an ihren Beinen, hielt sie gefangen, als watete sie durch zähen Honig. Sie sah alles: die kurzen Mähnen der Pferde, ihre kräftigen Beine, die barbrüstigen Männer mit den spitz zugefeilten Zähnen, ihre grausamen Gesichter, mit Wölfen und Skeletten und Totenmasken bemalt, die Speere und Köcher und Bögen – aber es war kein Geräusch zu hören außer ihren eigenen Schreien, den Schreien der Kinder und dem Stampfen von Pferdehufen im Fluß.
»Schneller! « flehte sie die Kinder an. »Lauft schneller, um Hans willen! «
Keru stolperte und ging unter, Keshna grapschte nach seinem Handgelenk und riß ihn wieder hoch. Er spuckte und hustete und rang keuchend nach Atem. Dann war Hiknak endlich bei ihnen, packte Keshna um die Taille und warf sie mit aller Kraft in die Mitte des Flusses hinaus, weil sie wußte, daß dies Keshnas einzige Chance war, denn die Nomaden konnten nicht schwimmen. »Schnell, schwimm weg und versteck dich!« schrie sie Keshna an. » Schwimm um dein Leben! «
Keshnas Körper glitt aus ihren Händen und versank in den wilden Strudeln des Flusses, und Hiknak sah ihren Kopf nicht wieder auftauchen. Ich habe meine eigene Tochter ertränkt, dachte sie einen Moment verzweifelt, aber ihr blieb keine Zeit, um sich diese schreckliche Vorstellung gänzlich zu vergegenwärtigen, denn Keru mußte ebenfalls gerettet werden. Sie stürzte sich auf ihn, umfing ihn mit ihren Armen und machte Anstalten, ihn in den
Weitere Kostenlose Bücher