Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin
nicht, daß er zu schwer für die Pferde sein wird, um ihn von der Stelle zu bewegen?« fragte Arang und beäugte zweifelnd den mächtigen Stamm.
Stavan nahm einen Schluck aus dem Wasserschlauch, spülte sich den Mund damit und spuckte es aus. Sein blondes Haar klebte schweißnaß an seinem Kopf, und auf seinem Nasenrücken prangte ein breiter Streifen Schmutz. »Keine Sorge«, sagte er und lächelte Arang zu. »Ich habe schon öfter, als ich zählen kann, ein Pferdegespann dieses Gewicht ziehen sehen. Das Zelt meines Vaters – wenn du dir die Stangen und die Ausstattung dazudenkst – war wahrscheinlich mindestens ebenso schwer wie dieser Riese hier. Natürlich werden wir langsam gehen müssen, damit die Schleppseile nicht in den Büschen hängenbleiben, aber so weit ist es ja nicht; sind wir erst einmal in den Feldern, geht es ohnehin leichter. Tatsächlich habe ich schon eine geeignete Strecke im Auge.« Er griff nach einem Zweig und begann, den Weg in die weiche Erde zu zeichnen. Die Eiche hatte so dicht belaubte Äste gehabt, daß der Boden zu ihren Füßen fast nackt war bis auf Moos und ein paar Pilze.
»Also, stell dir vor, diese Wellenlinie ist der Fluß. Wir werden ihn hier an der gewohnten Stelle überqueren; aber statt direkt auf die Stadt zuzustreben, lassen wir die Pferde eine Strecke am Ufer entlanggehen, wobei der Stamm auf dem Wasser treibt. Wenn wir zu den Weiden kommen, werden sie ihn über dieses Stück Sumpfland ziehen, wo die Schweine sich so gerne suhlen. Von dort aus ist es ein Kinderspiel! «
Er blickte auf und sah, wie Arang ihn völlig verständnislos anstarrte. Die Sharaner waren armselige Fährtensucher, verglichen mit den Hansi. Selbst die Idee einer Landkarte war ihnen völlig fremd. Wenn sie von einem Ort zum anderen gelangen wollten, benutzten sie Lieder, die den Weg beschrieben. Arang war dem Lied seiner Mutter den ganzen weiten Weg vom Meer der grauen Wogen bis nach Shara gefolgt, war fast zwei Jahre lang kreuz und quer durch die Mutterländer gereist, ohne daß er sich einmal verirrt hätte; aber er konnte das Gekritzel und die Schlangenlinien, die Stavan in die weiche Erde zeichnete, ebensowenig entziffern wie Stavan die heiligen Zeichen auf den Tempelschriftrollen.
Stavan lachte und warf seinen Stock auf den Boden. »Mach dir nichts draus«, sagte er. »Vergiß nur nicht, daß wir diesen Baum über die Weiden schleppen müssen und nicht durch die Weizenfelder.«
Arang grinste. »Gut«, erwiderte er, »weil Großmutter nämlich ein furchteinflößender Anblick ist bei einem Zornausbruch. Wenn wir den Weizen niedertrampelten, würde sie uns mit einer Flut von Flüchen überhäufen, wie du sie noch nicht gehört hast, und die Clans, die für die diesjährige Ernte zuständig sind, wären nicht weniger empört.«
Sie tranken noch einmal aus dem Wasserschlauch, schulterten ihre Äxte und waren gerade im Begriff, die restlichen Äste abzuhacken, als die Pferde plötzlich nervös schnaubten.
Stavan erstarrte mitten in der Bewegung und senkte dann langsam seine Axt.
»Was ist los?« fragte Arang.
»Pssst!
Sie horchten einen Moment, aber es herrschte völlige Ruhe bis auf das Schnauben der Pferde und ihr eigenes Atmen.
»Ich höre nichts.«
»Das meine ich ja«, flüsterte Stavan. »Es ist verdächtig still. Wir haben viel Lärm gemacht, deshalb sind natürlich alle Tiere in unmittelbarer Nähe in Deckung gegangen. Aber aus der Ferne müßten wir doch etwas hören: einen Vogel, ein Eichhörnchen, irgendwas – sämtliche Tiere im Wald sind indessen plötzlich verstummt. Ich glaube, hier im Umkreis ist etwas ... etwas, was nicht hergehört.« Er drehte sich langsam im Kreis und musterte die Bäume, die sie auf allen Seiten umschlossen – hauptsächlich Eichen, mit Büscheln von Mistelzweigen in den Kronen, die wie Vogelnester aussahen. Direkt darunter befanden sich moosige, kahle Flächen, aber zwischen den Stämmen, an den offeneren Stellen, wuchs das Unterholz so dicht, daß sich fast alles darin hätte verstecken können.
Arang blickte sich ebenfalls aufmerksam um, aber er sah nichts als Wald: Bäume, ineinander verwobene Zweige und Gebüsch, und jenseits davon, tiefer drinnen, dunkle Schatten, die kühl und recht einladend aussahen.
»Was glaubst du, was es sein könnte?«
Stavan runzelte die Stirn und fuhr sich mit der Zunge über die Schneidezähne, so wie er es immer tat, wenn er sich über etwas im unklaren war. »Ich weiß es nicht. Ein großes Tier – vielleicht
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