Altoetting
einfach so mit dem Milchauto über die Böschung hinweg. Zwanzig Jahre lang nicht und dann auf einmal? Ob jetzt einer entgegengekommen ist und ihn abgedrängt hat oder sonst was, keine Ahnung. Aber irgendetwas muss da gewesen sein, weil der Granz war die Zuverlässigkeit in Person.«
Wieder hat die Apothekerin Plotek angeschaut und sein Schwamm war noch immer nicht voll. Noch immer ein fordernder Blick, noch immer Schädelweh wie lange schon nicht mehr. Frau Winkelmann fuhr einfach fort, obwohl sie mit dem Mixen vom Kopfschmerzpulver bereits fertig war – also rein ins Döschen, Deckel drauf, Aufkleber.
»Bitte!«
Kopfnicken.
»Und dann auch noch so ein Ende. Nein, das hat er nicht verdient, der Granz. Das war kein schöner Tod, wirklich nicht. Das mit dem Granz, das hätte dann doch nicht sein müssen.«
Wieder ein typischer Plotek-Blick, wieder nur Leere.
»Zehndreißig!«
Die Münzen tanzten auf dem Apothekentresen und Frau Winkelmann hat dazu gesungen – zusammen hat es wie ein Endzeit-Konzert geklungen, für jedes Schädelweh ein Horror.
»Nein, ertrinken hätte er nicht müssen, der Granz. Wenn er beim Aufprall gleich tot gewesen wäre, na ja, aber im Wagen eingeklemmt und langsam in der Milch ersaufen, das kann kein schöner Tod sein.«
»Wie ertrinken?«, hat es aus Plotek, ganz in Gedanken beim verunglückten Granz, plötzlich herausgefragt und eine Lawine losgetreten.
Wie aufs Stichwort überschwemmte die Apothekerin Plotek mit Worten wie die Milch den Granz. »Stellen Sie sich vor, die ganze Milch aus dem Milchauto ist ausgelaufen undundund . . .«
Plotek verstand vor lauter Worten überhaupt nichts mehr. So schnell konnte er gar nicht hören, wie die Apothekerin gesprochen hat.
»1000 Hektoliter Milch. . . undundund nur noch das Milchautodach hat herausgeschaut undundund. . . ein See aus Milch und der Granz ist untergetaucht im Auto und hat keine Luft mehr bekommen, weil nur noch Milch . . . überall. . . undundund . . . durch die Ohren, in den Mund, bis der
Granz ganz angefüllt war, abgefüllt, bis er voll war, auch in den Lungen . . . undundund . . . dann nichts mehr, aus, vorbei, Ende.«
Jetzt setzte Frau Winkelmann die Halbbrille ab und warf die elektronische Kasse zu, als wollte sie sagen: Das war’s.
»Das ist vergangen und vorbei! Eigentlich ist es nicht mehr der Rede wert. Jetzt sind Sie ja da, und es kann wieder weitergehen«, hat die Apothekerin umgeschwenkt und einen anderen Ton angeschlagen.
»Nehmen Sie einen Teelöffel davon nach dem Aufstehen, und Sie werden den ganzen Tag über nichts mehr von den Schmerzen spüren.«
Plotek hat nach Luft geschnappt wie der Granz nach der Milch. Er wollte noch mal nachfragen, öffnete den Mund, und schon waren wieder Worte von Frau Winkelmann in seinem Ohr.
»Brauchen Sie ein Tütchen?«
Plotek hat den Kopf geschüttelt, dass die Schmerzen geschleudert wurden wie die Unterhosen beim Schleudergang in der Waschmaschine. Bildlich jetzt. Plotek war hin- und hergerissen zwischen Wissen-Wollen und Nicht-mehr-hören-Können. Er war abgestoßen von den Worten der Wirtin und angezogen vom Granz, der Milch und dem Ende.
»Wenn’s nicht hilft, kommen Sie noch mal, dann verstärke ich einfach die Dosis.«
Kopfnickend gab sich Plotek geschlagen, und kopfnickend stand er bereits wieder vor der Apotheke.
Die Kirchturmuhr der Magdalena-Kirche schlug mittlerweile elf Mal. Plotek hatte bereits eine Stunde Verspätung und war noch immer nicht in Eile. Im Gegenteil, langsam ist er die Marienstraße entlanggeschlendert, so, als ob niemand auf ihn warten würde. Dann bog er in die Mühldorferstraße ein, und da war dann ein Tohuwabohu. Vor dem Rohbau der Mehrzweckhalle war alles abgesperrt. Ein Meer von rotweißen Absperrbändern war zu sehen, Polizeiautos, Feuerwehr und Schaulustige. Denen ist aber das Lustige beim Schauen bald vergangen. Plotek auch. Er brauchte gar nicht erst zu fragen, was denn hier los sei, er hatte es sofort gesehen. In einer der Außenmauern des Rohbaus war eine Schuhsohle im Beton zu erkennen. Jetzt fragt man sich, wie kommt die Schuhsohle, also praktisch der ganze Schuh, da in die Mauer hinein, zwischen den Beton. Das hat sich nicht nur Plotek gefragt, sondern auch alle anderen, die herumgestanden sind. Auch das komplette Laienspielensemble der Altöttinger Passionsspiele war da. Es war also nichts mit Proben, sondern Schuhsohlengucken. Der Schuh hatte die Größe 42, das konnte man genau erkennen, und nach innen abgelaufene
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