Altoetting
wäre jetzt, in diesem Zusammenhang, Blödsinn. Obwohl, es gibt natürlich auch Menschen, die bei verstellten Stimmen aus der Muschel an Erotik denken. Ja, gibt’s. In diesem Fall aber Erratik: a.) zu lat. erraticus – umherirrend, umherschweifend; b.) Findlinge, von erratischen Blöcken, Fels- und Gesteinsblöcken, die sich in Gebieten ehemaliger Vereisung verstreut finden und als große Geschiebe durch Gletscher oder Inlandeis an ihre derzeitigen Fundstätten transportiert wurden – heißt das im Wörterbuchsinne. Im engeren Sinne dagegen bedeutet Erratik: Erwartungen brechen. Also, wo Freude erwartet wird, ist Traurigkeit, wo man ein Kompliment vermutet, ist Spott. Wo Verschwinden, da Bleiben. Das hatte Plotek irgendwo aufgeschnappt. Vermutlich bei Dr. Kluge Ctdp, einer Sendung, bei der Plotek nie nichts verstand. Auch nicht Erratik, also hat er im Wörterbuch nachgeschlagen und seither ist es ihm im Gedächtnis. Plotek dachte: Das ist es! Das trifft haargenau zu. Erkenntnis sozusagen. Quasi Kluges transportierter Lebensentwurf. Schon damals war da was Wahres dran. Sagte die Mutter beispielsweise: »Paul, heute bleibst du aber mal zu Hause«, war Plotek garantiert in den nächsten fünf Minuten draußen. Sagte die Mutter, anderes Beispiel jetzt: »Paul, geh doch mal wieder unter Menschen«, hat man die Uhr danach stellen können, dass er tagelang das Haus nicht mehr verlassen hat. Er war also immer in Opposition gegenüber der Mutter. Und hatte den Dickschädel vom Vater. Die Folge war jetzt im Umkehrschluss, dass aus der Drohung »Verschwinde« ein unbedingtes Bleiben wurde. Außerdem war auch der Vertrag unterschrieben, so dass nur noch die Devise »durchziehen« übrig blieb. Plotek sind dann die ganze Nacht bis zum Morgen der Matthäus und der Topf nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Die letzte Leuchtdiodenstellung des Radioweckers, die Plotek wahrnahm, war bei 05.23. Und noch immer Vermutungen und Schlussfolgerungen. Undurchschaubare, wirre Gedankenketten haben sich wie Schlangen durch sein Hirn gezogen, sein ganzes Leben ist ihm bruchstückhaft durch den Kopf gegangen. Angefangen bei Matthäus, dann zum Topf, vom Topf zum »Verschwinde«, vom Verschwundenen nach Hause, zu Hause die Kindheit, gleich Familie, ungleich Vater, Mutter, Bruder, der Bauernhof, Schweinschweineschweine, Schafe, keine Wölfe, manchmal Schlangen, tot und lebendig, Hühner, abgehackte Köpfe, deckellose Töpfe – ein einziger Gedankenknäuel hauste da spätnachts noch in seinem Schädel, zusammengezurrt und zugezogen wie ein Sack voller Karnickel.
Bei 05.25 ist Plotek dann eingeschlafen.
4
Und wieder ist er viel zu spät aufgewacht. Quasi verschlafen. Das war ein altes Problem von Plotek. Abends konnte er nicht einschlafen, meistens wegen der vielen Gedanken, und morgens wachte er dann nicht mehr auf, weil er zu müde war. Dazwischen lag ein unerträgliches Schnarchen, ein krankhaftes Schnarchen, so dass sich die Nachbarn meist beschwert haben. In der vergangenen Nacht nicht. Am Morgen war die Sonne Plotek durchs offene Fenster direkt auf den Kopf geknallt. Das Zimmer hatte Ostseite. Die Stirn war wie ein Backrohr bei Höchststufe. Die Folge waren wieder Schmerzen, die ausnahmsweise mal nicht vom Saufen kamen. Dazu drang ein widerliches Hämmern aus der Ferne an sein Ohr, das immer näher kam, ganz nah und plötzlich unterm Fenster war. Und dann in seinem Kopf. Synchrones Pochen, bum, bum, bum.
»Herein!«, hat’s aus Plotek wieder mal herausgeklungen.
Aber kein Arno tauchte auf und auch kein Aspirin. Die Tür blieb zu. Dafür gingen Ploteks Augen auf. Er war wach. Die Leuchtdioden vom Radiowecker zeigten zehn und elf, elf nach zehn. Die Probe hatte schon angefangen. Es gab aber keinen Anruf. Komisch, hätte man denken können und dann: Jetzt aber hurtig aus dem Bett, rein in die Klamotten und im Laufschritt zum Bruder-Konrad-Platz. Aber Irrtum, falsch gedacht. Das war wieder typisch Plotek. Er hatte keine Eile, keine Hektik, war die Ruhe in Person. Von draußen hörte er noch immer Klopfen. Es war ein Presslufthammer von der Bausstelle vor dem Haus, unterm Fenster. Auch das noch! Der Asphalt wurde aufgerissen. Im Treppenhaus roch es schon wieder nach Sauerkraut. Auch in der Gaststube. Die Wirtin war erneut die Freundlichkeit in Person und hatte sofort Mitleid mit Plotek, weil der ein Gesicht vor sich her trug wie völlig am Ende. Ein Blick von ihm löste schon wieder eine Wortschwemme bei der Wirtin aus. Eigenartig, aber
Weitere Kostenlose Bücher