Altoetting
der Beule da. Dann der Kopfschmerz. Jeder Augenaufschlag wurde zu einem Hammerstoß. Der Kopf empfand sich selbst als einen Steinbruch mit Detonationen im Sekundentakt. Bum. Bum. Aua. Bum. Die Bums wurden durcheinandergewirbelt wie in einem Betonmischer. Es war ein synaptisches Kraftwerk kurz vor dem Supergau, der Schädel offen wie ein Scheunentor. Die Folge war ein Durchzug mit kalten Füßen und heißem Kopf. Daran anknüpfend ein verschwommener Blick. Plotek sah sich gedoppelt, gedreifacht, sah in den eigenen Augen gespaltene Ichs. Wo, war nicht klar. Es war quasi eine Finsternis im Hirn, ein Tunnel zwischen den Ohren. Der einzige Lichtblick war das Fenster. Es gibt also noch immer ein Draußen, hätte Plotek denken können, wenn er hätte denken wollen. Die Welt existierte genau betrachtet noch. Es war nicht nur alles in ihm. Er war nach wie vor ein Teil vom Ganzen. Nicht abgespalten, nicht getrennt. Das, was da auf seinem Hals saß, war, wenn auch schmerzend, ein Kopf. Sein Kopf. Ploteks Quadratschädel. Das war beruhigend. Alles andere war ungewiss, mit der einzigen Klarheit, dass vorher alles dunkel gewesen war und jetzt alles hell. Dazwischen musste irgendetwas passiert sein. Was? Abwarten, hätte Plotek abermals denken können, wenn er gedacht hätte. Aber mit dem Denken ist es wie mit dem Tun. Manchmal ist es nicht zu stoppen und ein anderes Mal kommt es nicht in die Puschen. Wie jetzt. Jetzt war nichts als Bandsalat in Ploteks Hirn, ein schwarzes Loch und keine Erinnerung. Nur visuelle Eindrücke tauchten scheibenweise, als stichpunktartige Wirklichkeit durch Ploteks Augenschlitze hindurch auf. Also: Decke, Balken, Tapete, Muster, Blumen. Maiglöckchen, Maiglöckchen, Maiglöckchen, dazwischen andere, unbekannte Pflanzen. Vorhänge, Bett, Plumeau, Zimmer. Schlafzimmer. Weil es keine Inneneinrichtung, außer einem Schrank, einem Bett, einem Nachttisch und einer Garderobe gab, musste es sich vermutlich um ein Zimmer in einem Hotel handeln. Auch ohne zu denken war Plotek jetzt klar: Das war nicht sein Zuhause. Das war fremder, ihm nicht vertrauter Raum. In den er bestenfalls durch freiwilliges Eindringen, schlimmstenfalls durch Kidnapping gelangt war. Letzteres hätte einige unschöne Erwartungen zur Folge, nämlich: Lösegeld, Polizei, abgeschnittenes Ohr, vielleicht auch Finger, wegen Identifizierung und allem. Aber wer sollte das Geforderte bezahlen? Der Vater? Die Mutter? Ploteks Bruder? Alle zusammen würden noch was drauflegen, damit Plotek da bleiben würde, wo er war. Wo immer das auch sein mochte. Hauptsache, er ist weg, mussten sie denken, endlich aus den Augen und vorbei mit der Schande, weil er noch nie die in ihn gesetzten Erwartungen erfüllt hatte. Nicht Priester, nicht Milchfahrer, auch nicht Landwirt war er geworden, sondern Versager. Jetzt huschte ein Lächeln über Ploteks Mund. Also gab es doch noch Gedanken, ohne zu denken. Das gibt’s, ja, intuitiv eben. Einfach so. Der Kopf schmerzte noch immer, schmerzte schmerzhafter als zuvor. Selbst wo kein Schmerz war, spürte Plotek einen. Nicht nur im Kopf. Überall. Kaum war er einem Luftzug ausgesetzt, hatte er schon eine Angina am Hals. Nicht wirklich natürlich. Doch, doch, der Schmerz war schon wirklich, aber nicht die Angina. Der Schmerz existierte auch ohne Angina, quasi als Einbildung. Die Angina hatte sich Plotek dazugedacht.
Oder, anderes Beispiel: Bei einer Sendung im Fernsehen wurde ein malignes Lungenneoplasma gezeigt. Und kaum war die Sendung zu Ende, hat Plotek den Schmerz schon in der eigenen Brust gespürt. Es fühlte sich an wie bebende Lungenflügel oder wie Messer, die ins Fleisch schnitzen. Danach folgte natürlich das ganze Programm. Also, zuerst zum Arzt, dann Abtastung, Röntgen der Lunge, dann keine Diagnose, schließlich war alles in Ordnung. Der Befund war einwandfrei und die Schmerzen weg. Quasi Wunderheilung, Lourdes im eigenen Kopf. Kaum war die Lunge wieder okay, haben die Hoden geschmerzt. Hodenkrebs ist zwar nicht ganz so gefährlich, aber die Angst davor ist noch größer. Das hat mit den Kastrationsängsten zu tun, mit dem Männlichkeitsverlust, der Kinderlosigkeit und allem. Psychologie eben. Obwohl Plotek mit Kindern nichts am Hut hatte. Man könnte sogar sagen, dass Plotek Kinder nicht nur nicht mochte, sondern vielmehr nicht ausstehen konnte. Einerseits können Kinder was Schönes sein. Andererseits sind Kinder unausstehlich. Kinder sind egoistisch, ichsüchtig, kompromisslos, launisch und alles das, was
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