Altoetting
Headlines hatten die Verantwortlichen schon vor Augen. Also war eine Informationssperre angesagt, schlimmer als damals im heißen Herbst 77. Nichts darf nach außen dringen, zumindest nicht bis morgen. Fünf Tote in sieben Wochen werfen selbstverständlich kein gutes Licht auf die Stadt und die Passionsspiele.
Natürlich lassen sich fünf Tote und eine Jungfrau Maria als Mörderin von zweien nicht verheimlichen. Irgendwo ist immer eine undichte Stelle und dann geht es nach dem Schneeballprinzip. Zur Premiere am Samstagabend um 20 Uhr saßen also nicht nur die Honoratioren aus Altötting, Passau und München auf dem Bruder-Konrad-Platz vor der Basilika mit den Hintern auf den Holzbänken, sondern auch die Weltpresse. Nein, natürlich nicht die Feuilletons, sondern Journalisten von den Rubriken Aus aller Welt, Vermischtes und Verschiedenes. Die Regenbogenpresse und die Boulevardblätter waren vollzählig angereist. Die Opfer waren klar, die Täterin auch, nur das Motiv wurde geheim gehalten wie der eigene Augapfel. Deshalb war den Spekulationen natürlich ein weites Feld eingeräumt. Von Drogen, Sekte, Eifersucht bis geistig umnachtet war alles vertreten. Die Zeller Froni war ein braves oberbayerisches Mädel einerseits, andererseits aber auch eine Mehrfachtäterin, kühl einen Mord nach dem anderen kalkulierend. Da war die Frage nach dem Warum zwangsläufig. Das ging den Altöttingern nicht in den Kopf. Der Weltpresse noch viel weniger. Für Plotek dagegen war alles klar. Rache war ihr einziger Gedanke. Und religiöser Wahn. Sie hat Zeichen gesehen, wo keine waren, und dann alttestamentarisch gehandelt: Aug um Aug, Zahn um Zahn, bis alle tot sein sollten.
Die Premiere war dann doch noch ein Riesenerfolg. Na ja, weniger wegen dem schauspielerischen Kunstgenuss, sondern vielmehr wegen der Zuschauer. Der ganze Bruder-Konrad-Platz war voller Zuschauer und bis zum Kapellplatz hinauf sind die Schaulustigen gestanden, mit eindeutig steigender Tendenz. Nachdem die Weltpresse über Altötting geschrieben hatte, kamen noch mehr Touristen. Alle wollten das Altöttinger Passionsspiel sehen. Die Karten wurden völlig überteuert zu Schwarzmarktpreisen verkauft. Es war fast so viel los wie bei einem ordentlichen Wunder. Katastrophentourismus war angesagt, also quasi der Lassing-Effekt. Lassing auf oberbayerisch. Das war dann Arnos große Stunde. Wegen dem Geschäftssinn natürlich. Nicht nur Schneekugeln, Rosenkränze und Bratwürscht hat er an die Zuschauer gebracht, sondern auch T-Shirts mit Schriftzug drauf, Aufkleber und alles. Merchandising eben.
Natürlich gingen Altötting als »Horrorstadt« und die Passionsspiele als »Altöttinger Mordspiele« durch die Gazetten, aber egal. Der Erste Bürgermeister, der Kulturreferent, der Vorsitzende der Gewerbetreibenden und der Fremdenverkehrsdirektor waren, geschäftlich jetzt, allesamt hoch zufrieden. Auch eine negative Werbung lockt Menschen an. Und die kaufen ebenfalls Schneekugeln und Rosenkränze, übernachten und essen Altöttinger Bratwürscht. Also egal. Nur privat war natürlich der Fremdenverkehrsdirektor am meisten geknickt. Er hatte nicht nur seine Frau an den Halbbruder verloren, sondern auch die adoptierte Tochter für immer an den bisher unrühmlichsten Teil der neueren Altöttinger Geschichte.
Kurz bevor die Schauspieler bei der Premiere raus auf die Bühne sind, haben sich alle bespuckt – alter Theaterbrauch eben. Aber nicht nur die Schauspieler, der Regisseur, Bühnenbildner und alle, nein, auch wildfremde Menschen sind hinter die Bühne und haben die Darsteller umarmt und drei Mal toi, toi, toi über die linke Schulter. Plotek war das immer schon, während seiner gesamten Theaterlaufbahn, unangenehm gewesen, wegen der Nähe und dem Körperkontakt. Am unangenehmsten war ihm aber jetzt, dass die Merz Monika den Theaterbrauch einfach kurzerhand und ohne Vorwarnung abgeändert hat. Also, nichts mit toi, toi, toi und Spucken über die linke Schulter. Stattdessen hat sie einen dicken Kuss auf den Mund von Plotek gepflanzt, dass der Lippenstift hängen geblieben ist und Plotek sogar noch als Jesus den dunkelroten Abdruck der Monika spazieren trug.
Für die Zeller Froni ist bei der Premiere die Souffleuse Annemarie eingesprungen. Für den Bartholomäus Manuel, und Arno hat weiterhin den Judas gespielt. Und es ging. Ja, es lief. Natürlich ist Arno wieder gestolpert und nicht nur einmal, weil er die ganze Nacht durchgesoffen und am nächsten Abend noch erheblich
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