Altraterra. Band 1: Die Prophezeiung (German Edition)
in erster Linie, dass sie in der Lage ist, geltende Zauberregeln zu befolgen. Jeder hätte sich mithilfe von Flügeln aus einem Baum gerettet. Das ist der kraftschonendste Zauber und zugleich äußerst effektiv, da man aus der Luft heraus den Gegner bereits attackieren kann, während man bei einem Seil verhindert ist und dem Gegner zum Opfer fällt. Nun schauten sich die Herren böse an, Edward und Marzian auf der einen Seite, Raindor auf der anderen. Anne wusste gar nicht mehr, wen sie beim Zaubern angucken sollte.
Nachdem sie ihre Vorführung beendet hatte, wurde es nicht eben leichter. Der Hohe Rat verlangte von ihr, einige Tricks vorzuführen, die sie nur unsauber beherrschte und so ließ sie zum Beispiel bei dem Versuch, eine Maus in ein Küken zu verwandeln, die Maus einfach entwischen, weil sie sich nicht schnell genug auf den richtigen Spruch besinnen konnte. Am Ende war sie vollkommen erschöpft. Die drei Herren schickten sie hinaus und zogen sich zum Beratungsgespräch zurück.
Anne flüchtete gleich in die Bibliothek und schlug einige Sprüche noch einmal nach. Auf den ersten Blick konnte sie nicht erkennen, was sie falsch gemacht hatte und doch hatte sie kein gutes Gefühl. Bald verließ sie die Bibliothek wieder, um sich nicht unnötig verrückt zu machen, aber ihr Gefühl wurde nicht besser.
Nach einer halben Stunde, in der es Anne von Minute zu Minute übler wurde, kamen Edward, Marzian und Raindor endlich aus dem Prüfungsraum heraus. Raindor lächelte sie wohlwollend an, die anderen erschienen ihr ein wenig spitz. Schließlich erklärte Edward: „Anne, Isadoras Tochter – du hast die Prüfung bestanden. Allerdings liegt das eher daran, dass du die wenigen Zauber, die du sicher beherrschst, sehr kraftvoll ausführen kannst. Wir raten dir dringend, dich bis zum Beginn deines Studiums zum Sommersemester am ersten April täglich in der Bibliothek weiterzubilden. Wir werden dort eine Liste des Lesestoffes für dich hinterlegen. Fräulein Cassandra wird dir helfen, die Bücher zu finden.“
Das klang so gehässig, dass Anne sich den Stapel an Büchern bereits ausmalen konnte. Aber es war ihr gleich – sie würde es den ehrwürdigen Herren schon zeigen und fleißig studieren. „Vielen Dank, ich werde mein Bestes geben und Euch nicht enttäuschen“, sagte sie laut. Dann aber fuhr Marzian fort: „Eine weitere Sache noch. Wir haben erfahren, dass das Volk dich zum Teil für die Auserwählte hält. Das ist natürlich Unsinn. Deine Kräfte sind bei Weitem nicht ausreichend dafür.“ Hätte Miraj sie nicht vorgewarnt, wäre Anne nun sicherlich enttäuscht gewesen, mit welcher Herablassung Marzian diese Worte sprach. So aber zuckte sie nur mit den Achseln.
Dann ging sie nach draußen, wo sich in den vergangenen drei Stunden eine herrliche Schneedecke gebildet hatte. Anne überlegte nicht lange: Vergnügt ließ sie sich mit voller Wucht in den Schnee fallen. Sie würde studieren – davon hatte sie immer geträumt.
Kapitel 41: Die Besucherin
Als Anne wieder aufstand, fiel ihr als Erstes Henri ein. Sie wusste nicht genau, wo man ihn hingebracht hatte, daher wandte sie sich an Professor Einar in seiner Hausmeisterloge. Sie musste eine Weile mit ihm verhandeln, doch dann führte er sie zu ihrem Bruder. Es ging eine lange Treppe hinunter in einen Kellerraum unterhalb der Universität. Hier war die Luft stickig, das Licht düster und die ganze Atmosphäre so trübsinnig, dass Anne sofort Mitleid mit ihrem Bruder bekam.
Sie gingen an mehreren leer stehenden Zellen vorbei – offenbar hatten die Grünmagier alles in allem nicht viele Feinde –, bogen schließlich um eine Ecke und kamen an einer schmuddeligen Zelle an. Hier saß im Halbdunkeln ihr Bruder. Nur eine einsame Kerze erleuchtete den winzigen Raum, in dem es gerade mal ein einfaches Bett und einen Tisch mit zwei Klappstühlen gab. Was tat Henri nur den ganzen Tag?
Professor Einar schloss die Tür auf und ließ Anne eintreten. „In einer halben Stunde bin ich wieder hier“, sagte der Professor, schloss hinter Anne wieder ab und ging den Gang entlang zurück.
Henri lag auf dem Bett und sah auf. Sein Gesicht sah verhärmt aus. „Was willst du hier?“, wollte er wissen. Anne versuchte es mit einem Lächeln. „Ich bin gekommen, um Frieden zu schließen.“ Henri schnaubte nur verächtlich, sagte aber nichts. „Henri, draußen liegt der erste Schnee. Weißt du noch, wie gemütlich es um diese Zeit immer bei uns zu Hause war? Wie wir gespielt
Weitere Kostenlose Bücher