Altraterra. Band 1: Die Prophezeiung (German Edition)
haben? Daran musste ich heute denken und deshalb wollte ich dich besuchen.“ Anne setzte sich auf einen Stuhl und stellte ihn so, dass sie Blickkontakt mit Henri hatte. Aber ihr Bruder sah sie nicht an.
Es herrschte eine ganze Weile Stille zwischen ihnen. Dann begann Henri: „Du und Miraj, ihr habt euch abgestimmt, was?“ Anne war überrascht. „Miraj war hier?“ Henri zog das Gesicht verächtlich in Falten. „Er wollte mir wohl ins Gewissen reden, weil ich mich bislang geweigert habe, etwas über die Schwarzmagier preiszugeben. Nun gib schon zu, dass du aus demselben Grund hier bist.“ Anne stand auf und ging einen Schritt auf ihn zu. „Nein, Henri, das ist nicht wahr. Ich wollte wirklich nur nach dir sehen – ich wusste doch gar nichts davon.“
Henri richtete sich nun im Bett auf und lehnte sich mit dem Rücken an die nackte, kalte Wand. „Und selbst wenn“, sagte er. „Es ist leicht, die Großmütige zu spielen, wenn man alles erreicht hat und verächtlich auf seinen Bruder herabsehen kann.“ Anne ging noch einen Schritt auf ihn zu und sah ihm ins Gesicht. „Das alles hier wollte ich nicht, Henri. Das musst du mir glauben. Aber ich kann doch nichts dafür.“ Anne kämpfte mit den Tränen. Nun lächelte Henri. „Dein Mitleid kannst du dir sparen. Du bist so gefühlsduselig. Das warst du schon immer. Es wundert mich wirklich, dass du eine gute Zauberin geworden bist, ständig wird wegen jeder Kleinigkeit geheult. Schon als kleines Kind warst du so. Und als Mama gestorben ist, bist du tagelang nicht aus dem Bett aufgestanden. Papa saß die ganze Zeit an deiner Seite und hat dir den Kopf gestreichelt. Ich musste mit meiner Trauer allein fertigwerden.“
Anne sah ihn bestürzt an. So weit also reichte sein Hass zurück. Sie hatte bislang geglaubt, Henri sei ihr zu einem bestimmten Zeitpunkt entglitten, den sie noch herausfinden müsste. „Aber als Kinder sind wir doch gut miteinander ausgekommen. Du hast dich erst verändert, als du auf die Universität gegangen bist. Können wir nicht wieder versuchen, uns näherzukommen?“ Henri lachte verächtlich. „Ja, du, die große Auserwählte, und ich, dein verschmähter Bruder. Bist du wirklich so naiv, Anne?“ Er lachte noch einmal auf und sagte dann leise zu ihr: „Und überhaupt – an welchem Punkt sollten wir denn anknüpfen? Denkst du, ich hätte dich je gemocht? Seit dem Zeitpunkt deiner Geburt hat sich alles nur noch um dich gedreht. Von deinem ersten Atemzug an warst du mir ein Dorn im Auge.“
Henris Hass schien sich mit seinem Blick im Raum zu verbreiten. Anne fröstelte und wich einen Schritt zurück, dann noch einen, bis sie schließlich wieder auf ihrem Stuhl saß. Sie hielt sich krampfhaft an der Lehne fest und grub ihre Finger tief hinein, um nicht doch noch loszuheulen. Sie sehnte den Augenblick herbei, wenn Professor Einar zurückkehrte. Eines aber musste sie Henri noch fragen. „Als du deine Zauberkräfte entdeckt hast, Henri – hast du da je den Wunsch verspürt, Mutters Tod und den von Tante Gwynda zu rächen?“ Sie sah ihm noch einmal in die Augen, sie musste sichergehen, dass sie die Wahrheit erfuhr. Henri schwieg und sie versuchte, in seine Gedanken einzudringen, aber sie schaffte es nicht. Er schien sie zu blockieren.
„Netter Versuch“, sagte er schließlich. „Ich hörte schon, dass du eine Somnia bist. Ein Jammer, dass Mutter ihre großartigen Kräfte an dich vererbt hat – und so eine Verschwendung. Aber um deine Frage zu beantworten – nein, ich wollte ihren Tod nicht rächen. Ich wollte beweisen, dass ich nun an den Platz von Mutter und Tante Gwynda getreten war und dass ich die magische Welt für immer von allen Gefahren befreien würde.“ Er schwieg einen kurzen Moment. „Aber nun, wo mir das niemals gelingen wird, sehe ich nicht, warum ich die Pläne der Schwarzmagier verraten sollte. Das Volk hat sich gegen mich entschieden, also wieso sollte ich euch helfen? Es ist mir ganz recht, hier sitzen zu bleiben, bis die Schwarzmagier euch überrannt haben. Wenn sie sehen, dass ich eingesperrt bin, schonen sie vielleicht sogar mein Leben. Und sind die Grünmagier erst vernichtet, kann ich von vorne anfangen.“
Anne lief es kalt den Rücken hinunter. Sie sah Professor Einar über den Gang kommen und stand auf. „Na dann“, sagte sie zu Henri, „werde glücklich mit deinem Hass.“ Als Professor Einar die Tür aufschloss, ging sie schnurstracks hinaus, ohne sich noch einmal nach Henri umzusehen. „Alles in
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