Altstadtfest
irgendeine Broschüre, für die sie einen Artikel verfasst hatte, eine Reihe von Volleyballurkunden, die Bescheinigung eines Deutschsprachkurses in Hintertupfingen, Diplome, Belege, Bescheide. Die meisten davon Originale, der Rest in Kopie. Außerdem Fotos. Sie zeigten Beatrice als Heranwachsende und als junge Frau, mal allein, mal zusammen mit Freunden. Auf einem Foto war sie schick zurechtgemacht, für eine Feier vermutlich, auf einem anderen saß sie ernst, fast traurig da, die Arme verschränkt, den Betrachter mit ihrem dunklen Blick durchbohrend. Das schönste Bild war das, auf dem sie über ein abgeerntetes Feld ritt, ihr Haar schlug wild um die Schultern, im Hintergrund sah man einen ockergelben Kirchturm. Da mochte sie 16 gewesen sein. Sie war schlank, hübsch, ein bisschen unscheinbar vielleicht. Ihrem Vater glich sie nicht. Sie hatte viel hellere Haut als er, war ein gutes Stück kleiner und generell kein südländischer Typ. Vielleicht wollte ich auch nur, dass sie ihm nicht ähnlich sah.
Geboren war sie in Florenz. Aufgewachsen ebenda. Internat in Lucca. Studium der Geschichte und Literaturwissenschaft wieder in Florenz. Im Sommer letzten Jahres zu einem einjährigen Auslandsaufenthalt nach Heidelberg; um ein weiteres Jahr verlängert. So weit die äußeren Daten, die ich teilweise schon kannte. Und sonst? Was teilten mir die Unterlagen dieses Ordners über das Mädchen mit, das vor drei Tagen auf dem Kopfsteinpflaster des Uniplatzes verblutet war? Nichts, überhaupt nichts. Nur die Fotos sprachen ihre eigene Sprache, sie vermittelten mehr als eine Matrikelnummer oder eine Zeugnisnote.
Ich schloss die Augen und lehnte den Kopf in den Nacken. Irgendetwas gefiel mir an der ganzen Sache nicht. Irgendetwas kam mir faul vor. Nicht, dass ich von einem Aktenordner seelische Offenbarungen erwartete. Aber allein die Tatsache, dass mir der Vater einen Ordner vorlegte, anstatt sich über seine Tochter zu äußern – das sprach doch Bände. Ganze Bibliotheken sprach das!
Nicht zu vergessen, wie perfekt die Delegation aus Florenz vorbereitet war. Wann erhielt Petazzi die Nachricht vom Tod Beatrices? Am Sonntagmorgen wahrscheinlich. Am selben Abend traf er in Heidelberg ein, aber nicht Hals über Kopf, nicht als gebrochener Vater, sondern mit einer klaren Idee, wie der Anschlag abgelaufen war, und mit einem sorgfältig zusammengestellten Ordner über das Leben seiner Tochter im Gepäck. Das weitere Vorgehen: generalstabsmäßig. Am Montag wurden die Behörden abgeklappert, und zwar schön auf der Chefebene, am Dienstag wurde das Fußvolk zum Rapport bestellt, Max Koller inklusive. So etwas nannte ich Planungshoheit, da überließ man nichts dem Zufall. Kein Wunder, dass Italien den aktuellen Fußballweltmeister stellte. Leidenschaft und Taktik, Vaterliebe und Buchführung – die ideale Kombination. So ideal, dass ich nicht daran glaubte.
Und warum nicht? Die Vaterliebe war der Schwachpunkt. Ein einziges Mal hatte Petazzi in sein Taschentuch geschnäuzt; ob aus Rührung, stand dahin. Gut, nehmen wir an, es war Rührung. Einen trauernden Vater hatte ich trotzdem nicht erlebt, sondern einen Politiker, der sich über die Verbrechen seiner Gegner empörte. Der die Dreistigkeit besaß, sich selbst zum eigentlichen Anschlagsziel zu erklären. Ja, das war es wohl, was mir die Galle hochkommen ließ: dass sich der Kerl so wichtig nahm. Vier Tote, ein Dutzend Verwundete, zig Traumatisierte? Vergesst sie! Ich bin das Opfer, ich, ich! Aber natürlich, Signor Petazzi, wir tun alles, um diese Unbotmäßigkeit aus der Welt zu schaffen – so winselte der Chor der Lakaien. Und ich, Max Koller, heulte kräftig mit.
»Eine Träne macht noch keine Trauer«, murmelte ich und griff nach der Likörflasche. Ein starker Spruch, dabei war er von mir. Wie auch immer, Trauer stand nicht an erster Stelle von Petazzis Empfindungen. Dann schon eher Rache: die Rachlust eines Egomanen, der sich in seiner Ehre gekränkt fühlt. Den ein Floh in den Schwanz gekniffen hat. Das hätte jetzt ein italienisches Sprichwort sein können. War aber auch von mir.
Ich blätterte den Ordner noch einmal durch. Beatrices Adresse hatte ich mir herausgeschrieben, ebenso die Namen ihrer Mitbewohnerinnen. Das Foto, auf dem sie so traurig dreinschaute, nahm ich aus der Klarsichthülle. Mir fiel auf, dass ihre Mutter mit keinem Wort erwähnt wurde. Seit Ewigkeiten fort, hatte Nerius gesagt. Fort und totgeschwiegen, konnte ich nach Lektüre der Unterlagen
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