Altstadtfest
ließ sich Zeit mit der Antwort. In seinen Mundwinkeln arbeitete es. »Sie werden lachen«, sagte er schließlich, »sie war eine Art Muse für mich. Ich weiß, es klingt albern, aber ihre Lebendigkeit, ihre Fröhlichkeit … es war inspirierend. Ich habe noch nie so viel geschrieben wie in diesem letzten Jahr. Was sie mir von zu Hause berichtete, hat mich sogar dazu gebracht, über meinen eigenen Vater nachzudenken. Etwas, was ich mein ganzes Leben lang vermieden habe.«
»Was hat sie Ihnen über Petazzi erzählt?«
»Alles. Das heißt, ich weiß nicht, ob es alles war. Aber es reichte, um ihn widerwärtig zu finden. Für den Alten war sie nur ein Teil seines großen Erfolgspuzzles. Eine Marionette, Eigenleben unerwünscht. Solange sie Kind war, versuchte er, ihr alle Wünsche, alle Fantasien auszutreiben. Sie wollte Kontakt zu ihrer Mutter aufnehmen – verboten. Ein soziales Jahr im Ausland? Kam nicht infrage. Erst in den letzten zwei, drei Jahren gelang es ihr, sich von ihm zu lösen. Was glauben Sie, wie er sie unter Druck setzte? Mit Zuckerbrot und Peitsche, Petazzi ist jedes Mittel recht. Eine Zeit lang bekam sie keinen Cent von ihm. Sie pfiff drauf. Also überwies er ihr wieder etwas. Mehr als genug, um sich sein Anrecht auf ihre Funktionstüchtigkeit zurückzukaufen.«
»Sie nahm das Geld nicht.«
»Nein, in der Regel nahm sie es nicht. Aber die Studiengebühren wollten auch bezahlt sein. Und ihre Krankenversicherung, die Miete und all das. So einfach schlägt man sich als Ausländerin in diesem Land nicht durch. Sie jobbte natürlich, soweit ihr Studium es zuließ. Und immer dann, wenn ihr alles zu viel wurde, kam ein Schreiben von Petazzis Sekretärin, oder dieser Nerius schaute vorbei und jammerte, der Alte sei so allein und vermisse sie. Sollte er zu streng mit ihr gewesen sein, entschuldige er sich dafür. Sie müsse das verstehen: seine Position als Politiker und alleinerziehender Vater, der öffentliche Druck, der auf ihm laste … Das macht einen fertig, sage ich Ihnen, wenn man seinen Platz im Leben noch sucht.«
»Wollte sie tatsächlich in Deutschland bleiben? Hier in Heidelberg?«
»So weit war sie noch nicht. Zunächst hatte sie vor, ihr Studium hier zu beenden. Was schwer genug geworden wäre. Ich meine, sie war keine Schmalspurstudentin, ganz im Gegenteil. Sie engagierte sich, war in der Fachschaft, interessierte sich für politische Themen.«
»Ich weiß. Sie hat irgendein Referat über Globalisierungsgegner gehalten.«
»Na, sehen Sie!«, rief Usedom. »Und warum hat sie das? Warum sympathisierte sie mit Attac und linken Gewerkschaften? Um Stellung gegen ihren Vater zu beziehen. Deshalb, Herr Koller! Es war die Verarbeitung ihres Vatertraumas, und sie hatte meine volle Unterstützung dabei. Ich habe ihr sogar vorgeschlagen, ihre Abschlussarbeit über die Geschichte von Widerstandsgruppen zu schreiben. Vielleicht hätte sie es getan, ich weiß es nicht. Es wäre nur konsequent gewesen.«
»Mit anderen Worten: In allem, was Beatrice Petazzi tat, opponierte sie gegen ihren Vater.«
»Völlig richtig. Auch wenn sie selbst das nie zugegeben hätte.«
»Und? Was folgern wir daraus? Was heißt das für meine Arbeit? Soll ich daraus eine neue Theorie entwickeln: Der alte Petazzi hat den Killer vom Uniplatz höchstpersönlich engagiert, weil er die Opposition in der eigenen Familie heraufziehen sah? Weil ihm das auch noch die Gelegenheit gab, den gebrochenen Vater zu spielen?«
»Quatsch!«
»Was heißt es dann?«
»Dass seine ganze Trauerinszenierung eine verlogene Show ist, das heißt es. Dass er seine Umwelt manipuliert. Und dass Leute wie Sie nicht für ihn arbeiten sollten.«
Ich schüttelte den Kopf. »Sie mögen mit allem recht haben, Herr Usedom. Mit der Inszenierung, der Manipulation, dem Vater-Tochter-Konflikt. Trotzdem nehme ich Petazzi ab, dass er wissen will, wer Beatrice auf dem Gewissen hat. Ich glaube ihm seine Trauer. Vielleicht ist es eine Trauer aus gekränktem Stolz, aus Egoismus, aber es gibt da etwas.«
»Sie sind zu gut für diese Welt«, murmelte er.
»Bin ich nicht. Ich bin sogar so böse, dass ich mich frage, warum Sie nicht trauern. Sie haben Beatrice wirklich gemocht, als Muse oder Freundin oder Tochter, egal. Aber Trauer kann ich an Ihnen nicht entdecken.«
Sein Blick wurde abweisend. »Ich habe verlernt zu trauern. Weiß nicht mehr, wie das geht.«
Ich suchte noch nach einer Formulierung, die ihm schonend beibrächte, wie pathetisch diese Sätze
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