Altstadtrebellen
Paul, in der wir aufgewachsen sind. Weißt du noch, hier stand immer Mutter …«, dabei deutet er in Richtung Lucie, »… nichts gegen Sie, also, hier stand immer Mutter und hat gekocht. Wenn es fast nichts zu essen gab, sagte sie immer: ›Den Wind kann man nicht verbieten, aber man kann Mühlen bauen!‹ Habe ich zwar nie kapiert, aber es hat mir immer gut gefallen!«
»Das kenn ich, das geht mir oft so!«, wirft Walter ein. Max aber referiert dessen ungeachtet weiter: »Da, in diese Richtung …«, er deutet dabei auf den Gang zur Toilette, »… da ging es immer raus zum Hof, Paul, weißt du es noch?« Ein leichtes bestätigendes Grummeln von Simmermann ist zu vernehmen. »Da haben wir viel gespielt. Ich weiß noch genau, als wir uns den Hof immer in Kontinente einteilten. Da hinten bei den Garagen, das war Asien, bei den Mülltonnen, vor denen die Kinder aus dem dritten Stock spielten, das war Afrika, und die gusseiserne Wendeltreppe zu diesem immer besoffenen Schlosser, das war Russland, das weiß ich noch wie heute. Und der Ami, der war auf der anderen Straßenseite, das war der Feinkost Müller, weil der uns nie reingelassen hat.
Habe ich oft dran gedacht, als ich noch bei Siemens war, als Projektmanager, da musste ich ja viel fliegen, und wenn ich so aus dem Fenster blickte, dachte ich oft, jetzt fliegst du über die Garagen, dann landest du bei den Mülltonnen und nächste Woche bist du wieder bei Feinkost Müller. Tja, und wenn ich keine Zeit hatte, mit dir zu spielen, schnapptest du dir einen Stuhl aus der Küche, hast dich vor die Tür gesetzt und den ganzen Tag die Welt bewacht. Tja, lange her.
Ich habe dir in meinem Brief ja von der Firma geschrieben, die ich gegründet habe. Ist gut gelaufen, wir hatten schon sechs Filialen, also, Gunter, mein Kompagnon, und ich. Freizeitmarketing, die größte Wachstumsbranche überhaupt. Weißt du, warum? Die Leute wollen sich alle so oft wie möglich spüren. Was erleben. Über den Bildschirm klappt das nicht, die Leute wollen den Müll loswerden, der sich da oben angesammelt hat!« Dabei tippt er sich an die Stirn, während er aus dem Fenster blickt, und fast hatte es den Anschein, als erzähle er das vor allem sich selbst: »Wir parodieren doch nur noch die Parodie, wir äffen doch nur noch das Abziehbild eine Karikatur nach, immer auf der Suche nach dem Original!«
Hektisch wendet er sich wieder dem Stammtisch zu. Seine Stimme überschlägt sich fast in ihrer Heiserkeit: »Aber das Original, Paul, das Original ist verschollen, irgendwo zwischen Internet und Selbstverwirklichung! Das ist zwar traurig, aber wenn man die Spielregeln kennt, kann man mit so was Geschäfte machen. Schau mal her, ich zeig dir mal was.« Dabei kramt er aus seiner Hosentasche ein nicht definierbares Plastikteil heraus und hält es den dreien am Stammtisch vor das Gesicht: »Schaut euch das mal an. Weiß jemand, was das ist?« Simmermann blickt ratlos, Chosy will sich einbringen: »Eeehheeeh…«, doch schon setzt Max seine Ausführungen fort: »Ich weiß es auch nicht. Hab ich draußen auf der Straße gefunden. Und jetzt sag ich dir was, mein lieber Bruder, wenn du mit der richtigen Werbestrategie den Leuten erzählst, dass du, wenn du dir das Teil hier 14 Tage lang um den Hals hängst, danach zehn Kilo leichter bist, kannst du mit so einem Teil reich werden. So sieht es aus. Hier, schenk ich dir!« Dabei legt er das Plastikteil auf den Tisch.
Daraufhin stellt sich Max wieder in Position, die Hände in die Hosentaschen, er atmet tief durch und blickt wieder Richtung Fenster: »Sechs Filialen hatten wir schon. Rundreisen durch die Freizeitparks, Nationalparks, Extremsport, alles dabei. Aber mein Kompagnon, der Gunter, der war zu weich. Dem war das alles zu viel, verstehst du? Der konnte auch keinen entlassen. Ich habe immer wieder zu ihm gesagt: ›Gunter, wir können uns nicht um Einzelschicksale kümmern!‹ Hat alles nichts gebracht. Gerade als die Firma am Laufen war, hat sich Gunter zurückgezogen. Burn-out-Syndrom, Depressionen, das ganze Zeug. Ich war oben im Büro am Akquirieren, und er saß grübelnd unten im Eiscafé. Ich bin immer wieder runter zu ihm, hab auf ihn eingeredet: ›Gunter, zu viel denken lähmt den Willen zur Tat, hör endlich auf, lass mich jetzt nicht hängen.‹ Irgendwann hat’s mir gereicht, ich sagte zu ihm: ›Gunter, du bist ein guter Kollege, aber mit dir werde ich es bundesweit nicht schaffen!‹ Da fängt der an zu heulen, im
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