Alvion - Vorzeichen (German Edition)
wunderliche Dinge gesehen, als die meisten in ihrem ganzen Leben!“
Wir blickten beide einen kurzen Moment ins Leere, so als würden wir auf weite Länder schauen, die eine unwiderstehliche Verlockung darstellten. Schließlich hob ich meinen Becher.
„ Lassen wir doch die förmliche Anrede, Tian und trinken wir auf die Sehnsucht, die uns immer wieder dazu bringt, unser Leben einzusetzen und unzumutbare Widrigkeiten klaglos zu ertragen!“
Tian hob seinen Becher und ließ ihn gegen meinen stoßen.
„ Wohl wahr, Alvion! Auf den heutigen Abend und darauf, dass es nicht der Letzte dieser Art bleibt!“
An jenem Abend hatten wir Freundschaft geschlossen, bis tief in die Nacht geplaudert und Erfahrungen ausgetauscht und am nächsten Tag waren wir mit einer kleinen Händlerkarawane in die alte Hauptstadt Ostsoliens, Perlia, aufgebrochen. Da Tian nichts Besseres vorgehabt hatte, hatte er sich einfach angeschlossen. Das war kein Problem, denn es war für die Gilden schwer genug, genügend Kämpfer aufzutreiben.
Es war einige Wochen später, als wir am Abschluss einer sehr ruhigen Reise Perlia erreichten und uns dort nach Erhalt unseres Lohnes in einem kleinen Gasthof nahe der Stadtmauer einmieteten. Normalerweise dauerte es immer zumindest ein paar Tage, ehe mich das Gefühl der Rastlosigkeit wieder einholte, doch diesmal geschah es bereits am nächsten Tag. Vielleicht lag es daran, dass der Auftrag, der uns hierher geführt hatte, keinerlei Ablenkung geboten hatte, oder doch an den heftig heraufbeschworenen Erinnerungen an meine Heimat und meine Familie vor wenigen Wochen, jedenfalls saß ich an jenem zweiten Abend lange schweigsam am Tisch und rang mit mir selbst, ob ich Tian Lux bereits so weit vertrauen wollte und ihm meine Geschichte, die ich seit elf Jahren niemandem mehr erzählt hatte, anvertrauen sollte. Sein Gesicht blieb unbewegt, doch es war ihm anzusehen, dass es hinter seiner Stirn begonnen hatte zu arbeiten. Er schien zu wissen, dass ich gerade eine wichtige Frage hin und her wälzte, doch er fragte nicht, sondern wartete stumm, bis ich von selbst zu sprechen begann.
„ Ich bin Lyraner, Tian!“, waren nach ewiger Zeit meine ersten Worte, dann begann ich zu erzählen.
K apitel 2
Einst nannte man meine Heimat Alyra die ’Perle des lynischen Meeres’! Es war eine kleine, wohlhabende Insel, achthundert Meilen abseits der Küste von Septrion und lange Zeit wie in friedlichem Schlaf liegend. Vergessen von Velia, bis vor einigen hundert Jahren solische und kragische Seefahrer an ihren Küsten gelandet waren und Alyra durch den Handel wieder mit Velia verbunden hatten. Einst, so besagte es bei uns jedenfalls die Legende, war Alyra die Heimat der letzten Lynen, ehe diese vom Angesicht Velias verschwanden. Aus den Verbindungen der Lynen mit ihren solischen oder argion’schen Gefährten, die sie damals mit sich genommen hatten, entstanden die Lyraner und daher verstand sich mein Volk als legitimer Erbe der Lynen, auch wenn kaum etwas von ihrem Wissen und ihrer Magie erhalten geblieben war. Vor dem Beginn des Zweiten Zeitalters oder in dessen ersten Jahren rief Lynia auch die letzten verbliebenen Lynen an einen unbekannten Ort und so verließen auch sie Alyra, so sagte es jedenfalls die Legende. Dies ist natürlich die romantischere Version, denn obgleich die Lebensspanne eines Lynen länger ist, als die eines Menschen oder Argion, so ist sie doch nicht unendlich, sodass irgendwann auch der letzte Lyne von rein lynischem Blut nach Chiora gegangen war. Zurück blieb mein Volk, die Lyraner, die friedlich, bescheiden und glücklich mit ihrer Abgeschiedenheit waren, ehe die Entdecker aus Velia kamen und begannen, mit uns Handel zu treiben. Da meine Heimat sich als reich an hochwertigen Erzen erwies und allgemein sehr fruchtbare Böden hatte, nicht nur an den Hängen der Berge, wurde Alyra in ganz Velia schnell berühmt für zwei Dinge: seinen Wein und seine Schmiedekunst.
Nirgendwo gedieh besserer Wein als dort, denn bessere Trauben waren auf dem gesamten Kontinent nicht zu finden und auch die Schmiedekunst suchte ihresgleichen, an keinem Ort wurde feiner geschliffen, niemand sonst gestaltete solch kunstvolle Verzierungen und nirgendwo waren die Schmiede geschickter im Umgang mit den Erzen, außer vielleicht im Lande Zal. Es gab jedoch zwischen zal’scher und lyranischer Schmiedekunst derartig viele Gemeinsamkeiten, dass vermutlich auch die Erstere auf das alte, lynische Verfahren zurückzuführen
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