Alvion - Vorzeichen (German Edition)
nebeneinander lebten. Wenn man die Stadt verließ und auf einen Hügel im Hinterland stieg, konnte man sie in all ihrer Schönheit sehen, wie sie sich an die Bucht schmiegte, während die zu beiden Seiten der Bucht aufsteigenden Felsen der Steilküste nicht bedrohlich, sondern beschützend wirkten
Die Bucht von Genia war der einzige Ort, um die sich ein natürlicher Hafen gebildet hatte, ansonsten umgab eine hohe Steilküste die Insel. Wunderbare Wälder mit einer Vielzahl an wilden Tieren und, für einen Bewohner des Kontinents zum Teil sonderbar wirkenden Pflanzen, bedeckten die nördlichen und westlichen Teile der Insel, in die man sich besser nicht zu weit vorwagte. Von Ost nach West erstreckte sich ein vierhundert Meilen breiter und bis zu vier Meilen hoher Gebirgszug, die Lynischen Berge. Zu ihren Füßen lagen Siedlungen von Bergleuten, die in jenen Bergen eine Vielzahl an kostbaren Erzen förderten: Gold, Silber, Kupfer, Eisenerze und sogar Diamanten. Hier gab es auch die meisten Schmieden, die diese Erze verarbeiteten und dann durch ihre gewählten Vertreter in Genia an die Händler verkauften. Außer diesen lebten dort noch überwiegend jene Bauern, die den weit gerühmten Wein Alyras anbauten. Diese Dörfer waren nicht gerade arm zu nennen, doch ihren Reichtum bezahlten sie immer wieder mit Unglücken, die in den weit in die Berge hineingetriebenen Stollen oder an den zum Teil sehr steilen Hängen geschahen. In den Ebenen lagen die großen Getreidefelder der Insel und auch dort zählte man viele kleine Dörfer. Sie erreichten zwar nie den Reichtum der Hauptstadt oder der Dörfer in den Bergen, doch auch hier brauchte niemand Hunger zu leiden oder auf sonstige Dinge zu verzichten, denn ohne jene Lyraner hätte die übrige Insel nicht viel zu Essen gehabt. Unsere Heimat war ein wunderschönes Fleckchen, das kein Lyraner jemals für immer freiwillig verlassen hätte.
Doch an einem Tag im Hochsommer, der nicht schöner hätte sein können, sollte sich all das ändern. Auf den Tag genau weiß ich es noch, denn das Sonnenfest stand an jenem Abend bevor. Die Sonne brannte förmlich auf Genia herab, aber eine leichte, vom Meer kommende Brise, machte die Hitze erträglich. Es war genau um die Mittagszeit, als ich mit einigen Freunden über den zu dieser Zeit nur schwach bevölkerten Marktplatz lief. Gerade eben hatte unser Lehrer uns nach Hause geschickt, nachdem er uns noch einmal eingeschärft hatte, was wir bis zur Abschlussprüfung in der nächsten Woche lernen mussten. Die Folgenden wären meine letzten Tage in der Schule gewesen, denn die allgemeine Bildung, die jedes Kind Alyras erhielt, dauerte drei Jahre, üblicherweise vom neunten bis zum zwölften Lebensjahr, dann entschieden die Eltern, welchen Weg das Kind weiterhin beschreiten würde. Normalerweise erhielten nur die Kinder der Händler oder sehr Begabte die Möglichkeit, auf die Akademie zu gehen und weiter zu lernen, die Kinder der Bauern, Handwerker oder Bergleute erlernten meist das Handwerk ihrer Eltern. Ich würde vermutlich bald in die Fußstapfen meines Vaters treten, was mich mit großer Vorfreude erfüllte. Schon als kleines Kind hatte ich ihm in seiner Schmiede helfen dürfen und nichts anderes als der berühmteste und beste Schmied der ganzen Insel wollte ich werden. Doch genauso gerne wäre ich auf die Akademie gegangen, wie einst meine Mutter, um ein weiser Gelehrter zu werden, aber dies war wohl nur meiner zwei Jahre älteren Schwester Lyria vorbehalten. Allerdings wäre mir nie in den Sinn gekommen, sie deshalb zu beneiden, dafür liebte ich sie viel zu sehr. Sie war die beste große Schwester, die man sich wünschen konnte, denn sie war nie gemein oder boshaft zu mir. Lange Zeit hatte sie mir abends immer mit ihrer wunderbaren Stimme Lieder vorgesungen, die unsere Mutter schon von ihrer Mutter und jene wieder von ihrer erlernt hatte. Außerdem konnte man mit ihr zusammen allerlei Unsinn anstellen.
Lyria war das genaue Ebenbild unserer Mutter, nur eben fünfundzwanzig Jahre jünger: Sie hatten beide langes, glattes, pechschwarzes Haar, welches ihre wohlgeformten Gesichter mit den leuchtend blauen Augen umrahmte und beide waren von zierlicher Statur. Ich selbst war mit meinen zwölf Jahren fast schon kräftiger, auch wenn es mir noch etwas an Größe fehlte. In dieser Hinsicht kam ich mehr nach meinem Vater, der ein sehr robuster Mann war. Außerdem habe ich meine braunen Haare von ihm bekommen, allerdings hatte er auch braune Augen,
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