Alvion - Vorzeichen (German Edition)
schwaches Spiegelbild in der Scheibe und erkannte trotz dessen Undeutlichkeit, dass sich sein Haar von den Sorgen und Schreckensnachrichten der letzten Wochen grau zu färben begann und sein Gesicht von neuen, tiefen Falten durchzogen war. Innerhalb dieser wenigen Wochen war sein Lebenswerk zu einem nicht geringen Teil zerstört worden. Trauer drohte ihn zu übermannen, als er daran dachte, wie lange es gedauert hatte, Frieden in Solien zu schaffen, den Hunger zu besiegen und dem Land wieder zu Wohlstand zu verhelfen. Wenn es nicht irgendwie gelang, die Gefahr abzuwehren, wäre das alles umsonst gewesen und ein langes, dunkles Zeitalter würde über Septrion hereinbrechen.
Während Melior sein morgendliches Mahl zu sich nahm, dachte er wie jeden einzelnen Tag zuvor nur daran, was er tun konnte, um das drohende Unheil abzuwenden. Nachher würde er wieder mit seinen Beratern tagen und besprechen, was sie gegen die schrecklichen Gefahren tun konnten, dann würde er sich den alltäglichen Regierungsgeschäften widmen, Boten würden wieder mit schlechten Nachrichten eintreffen und irgendwann am späten Abend würde er sich wieder, von Sorgen gequält, unruhig im Bett hin und her wälzen. Am schlimmsten waren für ihn immer die Gedanken an die einfachen Menschen Soliens, die ihn wegen seiner großen Leistungen verehrten, zu ihm aufblickten und sich Hilfe von ihm erhofften und dabei fast blind auf ihn vertrauten. Manchmal fühlte er die schwere Last der Verantwortung so drückend auf seinen Schultern, dass er meinte, darunter zusammenzubrechen.
An diesem Tag wurde jedoch sein üblicher Tagesablauf durch einen frühen Besucher durchbrochen. Leise betrat einer seiner Diener den Raum, in dem Melior in Gedanken versunken vor seinem Essen saß, das er kaum angerührt hatte. Er fuhr erst aus seinen Gedanken auf, als der Bedienstete ihn ein zweites Mal ansprach.
„ Majestät? Ein Besucher wünscht zu Euch vorgelassen zu werden und lässt sich nicht abweisen.“
„ Ich habe keine Zeit, er soll sich wie alle anderen an die Schreibstuben wenden, dafür sind sie ja schließlich da!“, knurrte Melior unwirsch zur Antwort.
„ Auch nicht, wenn es um Einzelheiten geht, die du durch Boten erst in vielen Tagen erfahren würdest?“, erklang eine bekannte Stimme in sanft spöttischem Ton von der Tür her, ehe der Bedienstete auf Meliors Worte antworten konnte.
„ Zelio!“, rief Melior überrascht und erfreut zugleich aus.
„ Natürlich bist du jederzeit willkommen und brauchst dich nicht mit meinen Schreibern abzumühen!“, fügte er mit einem vorwurfsvollen Blick auf den Diener hinzu, der unter diesem sichtlich zusammenschrumpfte, sich verbeugte und leise den Raum verließ. Melior erhob sich und ging Zelio entgegen.
„ Bitte, alter Freund, setz' dich zu mir und berichte!“, forderte er Zelio von Dhomay freundlich auf und wies mit der Hand einladend auf den Tisch.
„ Es hat sich viel ereignet“, begann Zelio, als er der Einladung gefolgt war. Das folgende Gespräch dauerte über eine Stunde, die für den König zu einem Wechselbad der Gefühle wurde.
Schließlich kam Zelio zum Ende seines Berichts.
„ Ich habe vor, eine Zeit lang in Vylaan zu bleiben, denn ich habe Dinge von immenser Bedeutung zu erledigen. Sprich du jetzt mit deinen Beratern und triff deine Entscheidungen, ich werde sie für dich übermitteln. Du weißt, wo du mich finden kannst?“
„ Ja, das weiß ich Zelio. Ich danke dir!“, sagte Melior, als sie sich zum Abschied die Hände schüttelten, während er in Gedanken damit beschäftigt war, zu verarbeiten, was er gerade gehört hatte.
Nachdem Zelio gegangen war, hatte Melior sofort seine Diener zu sich befohlen und ihnen aufgetragen, eilends seinen Beraterstab zusammenzurufen. Nun blickte er schweigend auf seine versammelten Berater und wartete darauf, dass ihre leisen Gespräche untereinander verstummten. Die erste Anwesende war natürlich wie immer Tema Roxin gewesen, seine Beauftragte für die inneren Angelegenheiten und die Beziehungen der drei solischen Landesteile zueinander. Was niemand wusste, war, dass diese Frau mittleren Alters mit dem strengen Knoten in ihrem braunen Haar, ihrer sportlichen Figur und dem verschlossenen Gesicht seit Jahren seine Geliebte war, während Rhea, seine Gemahlin sich schon seit vielen Jahren auf den königlichen Landsitz nördlich von Vylaan zurückgezogen hatte und dort ihrem eigenen Vergnügen nachging. Melior schmunzelte flüchtig beim Gedanken an seine
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