Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Am Abend des Mordes - Roman

Am Abend des Mordes - Roman

Titel: Am Abend des Mordes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H kan Nesser
Vom Netzwerk:
für alle Beteiligten zweifellos das Beste gewesen wäre.
    Er freute sich ebenso wenig darauf, Billy Helgesson und seiner Juliana zu begegnen, gewiss nicht, aber in Stockholm erwartete ihn wenigstens Sara. Vielleicht hätte er auch auf ein Treffen mit Billy verzichtet, wenn Sara nicht in der derselben Stadt wohnen würde wie Ellen Bjarnebos Sohn. Er konnte sich seine Beweggründe ruhig eingestehen.
    Im Grunde gab es nur eine Beteiligte, mit der er ein Gespräch führen musste, und das war die Hauptperson selbst: Ellen Bjarnebo.
    Er hatte sie am Vormittag aus dem Zug heraus angerufen und ihr eine SMS geschickt, aber wieder keine Antwort bekommen. Es ließ sich nicht leugnen, dass die Sache ihm allmählich ein bisschen seltsam vorkam. Es war Freitag, sie hatte gesagt, dass sie im Laufe der Woche wieder in Kymlinge sein würde, und war fünf Tage zuvor aus Vilhelmina abgereist.
    Was zum Teufel treibt diese Frau, fragte Barbarotti sich. Hält sie sich bewusst fern, oder was ist hier los?
    Und was zum Teufel trieb er selbst? Das war eine mindestens ebenso brennende Frage. Als er an seine Unterredung mit Asunander zurückdachte, konnte er nur festhalten, dass dabei nichts geklärt worden war. Doch, eventuell, dass es trotz allem einen Grund gab.
    Einen Grund dafür, dass er in diesem – momentan stehenden – X 2000-Zug in einem vorsommerlich ätherischen Wald irgendwo in der Grenzregion zwischen Närke und Södermanland saß und nach der einen oder anderen alten Wahrheit suchte, der er bislang nicht einmal ansatzweise auf die Spur gekommen war. Der Wahrheit im Fall Arnold Morinder?
    Der Wahrheit im Fall Ellen Bjarnebo?
    Na ja, dachte Barbarotti, als sich der Zug vorsichtig in Bewegung setzte, es gibt Lichtungen im Wald, die kann man nur finden, wenn man sich verirrt hat. Vielleicht verhielt es sich mit Wahrheiten genauso. Warum eigentlich nicht?
    Das mit den Lichtungen hatte Marianne ihm einmal vorgelesen. Tranströmer, wahrscheinlich, er hatte immer im Bücherstapel auf ihrem Nachttisch gelegen.
    Nein, hatte gelegen stimmte nicht, denn der Stapel lag noch da. Gott bewahre, dass er ihn anrührte, Gott bewahre, dass er anfing, voreilig ihre Spuren zu verwischen. Er suchte ihren Brief aus der Tasche heraus, lehnte sich zurück und las.

23
    Der 3. Juni 1989
    Er sah so wehrlos aus.
    Das war das Wort, das ihr in den Sinn kam, als sie ihn mit einem Comic auf dem Bett sitzen sah. Wehrlos . Trotz seiner Größe; er war der größte und schwerste Elfjährige in der ganzen Schule, aber es nützte ihm nichts. Er würde keiner Fliege jemals etwas zuleide tun können, dachte sie, ging zu ihm und strich ihm übers Haar. Er sah sie unter der strähnigen, weißen Tolle an, und als sie sein Gesicht studierte, konnte sie darin wenigstens keine Spuren von Faustschlägen entdecken. Vermutlich hatte er sich, die Arme schützend um den Kopf gelegt, zusammengekauert und die Schläge auf Nacken und Schultern eingesteckt, es war nicht das erste Mal gewesen.
    Warum lasse ich das zu?, fragte sie sich. Warum geht das immer so weiter?
    Warum haben wir nicht die Kraft aufzubegehren, weder der Junge noch ich?
    Doch diese Fragen zeigten – wie üblich – keinerlei Wirkung. Die Schamdosis in der anderen Waagschale war zu groß, und mit Scham als Gegengewicht steht man auf verlorenem Posten. So war es, das hatten ihre Mäusekindheit und ihre Mäusejugend sie gelehrt. Denken ließ sich viel – alles Mögliche –, zu handeln erschien ausgeschlossen.
    »Hast du gut geschlafen?«
    Er sah sie an und nickte vage. Der Mund mit den dicken, sich spitzenden Lippen und einem auf den Kopf gestellten u . Natürlich erwartete sie keine Antwort, weil es im Laufe der Jahre immer schwieriger geworden war, mit ihm zu sprechen. Zu ihm zu sprechen, denn darum ging es ja. Sie dachte über diese Fortschritte nach, von denen seine Lehrerin gesprochen hatte; war das vielleicht nur etwas gewesen, was man eben so sagte, um die Eltern zu trösten?
    Aber er konnte lesen, schreiben und rechnen, das bestritt keiner. Und ihre zärtlichen Gefühle für ihn hatte sie auch noch. Sie kamen und gingen in Wellen und in diesem Moment, während er mit einem Donald-Duck-Heft im Schoß auf seinem ungemachten Bett saß – immerhin hatte er den Schlafanzug ausgezogen, die Jeans und das grüne T-Shirt angezogen, dieselben Kleider wie am Vortag, wenn sie ihn nicht anwies, zog er nie etwas Sauberes an –, in diesem Moment der Wehrlosigkeit, also, hätte sie ihn am liebsten in ihre Arme

Weitere Kostenlose Bücher