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Am Anfang eines neuen Tages

Am Anfang eines neuen Tages

Titel: Am Anfang eines neuen Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lynn Austin
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andere hin.“
    „Nein, Sir! Das tue ich nicht! Und du solltest es auch nicht tun!“ Sie tauchte die Hände wieder in die Seifenlauge, zog ein Hemd heraus und rieb es so hart über das Waschbrett, dass sie ein Loch hätte hineinrubbeln können.
    „Das hat Jesus gesagt, Lizzie. Ich habe mir das nicht ausgedacht. Und er hat auch gesagt, dass wir unseren Feinden vergeben und für sie beten sollen.“
    „Das ist zu viel verlangt. Den Leuten vergeben, die dich verletzt haben? Einem gemeinen Mann wie Massa Daniel vergeben, dass er unsere Schule angezündet hat? Oh nein, Sir.“ Sie wrang das Hemd mit beiden Händen energisch aus, so wie sie am liebsten Massa Daniel den Hals umgedreht hätte.
    „Hör zu, ich muss mit ihm fahren. Nicht nur um unserer selbst willen oder weil Miz Eugenia mich Baumwolle anbauen lässt, sondern weil es auch für die anderen Arbeit geben wird, wenn wir auf White Oak bleiben. Der alte Willy wurde in der Nacht auch verletzt und er braucht ein Dach über dem Kopf. Er ist zu alt, um draußen im Wald zu schlafen, und er stirbt, wenn er noch einmal so verprügelt wird. Aber wenn er anfängt, Miz Eugenia den ganzen Tag herumzufahren, kann ich auf den Baumwollfeldern arbeiten. Und Saul überlegt auch zurückzukommen. Seine Frau kann dir helfen.“
    „Clara ist Feldarbeiterin. Sie hat nie im großen Haus gearbeitet, war noch nie drinnen.“ Lizzie hob Missy Marys Hemdchen aus dem Wasser und schrubbte es auf dem Waschbrett.
    „Du kannst Clara doch zeigen, was sie tun soll, oder? Dann hört Miz Eugenia endlich auf, dich ganz verrückt zu machen.“
    „Das stimmt schon. Aber ich bete nicht für Miz Eugenia und für Massa Daniel bete ich auch nicht.“
    Otis rieb über den Schorf an seiner Stirn, der von der schrecklichen Nacht stammte. Er hatte Lizzie erzählt, dass die Fäden, mit denen der Doktor die Wunde genäht hatte, juckten. „Ich weiß, dass es schwer ist, Menschen wie ihnen zu vergeben“, sagte er, „aber Jesus hat den Männern vergeben, die Nägel durch seine Hände geschlagen haben, weißt du noch?“
    Lizzie dachte an Roselles Vater, während sie das Wasser aus dem Hemdchen wrang. Sie konnte schon den Gedanken an den Tag, an dem Roselle gezeugt wurde, kaum ertragen, selbst nach all den Jahren. Wie sollte sie da vergeben? „Ich kenne die Bibel nicht so gut wie du, Otis. Aber wenn du erwartest, dass ich vergebe und bete und all die anderen schwierigen Dinge tue, dann musst du es mir beibringen.“
    „Wir müssen es alle lernen, wir alle. Deshalb will ich anfangen, wieder Gebetsversammlungen abzuhalten, so wie wir sie hatten, als mein Daddy noch gelebt hat. Weißt du noch?“
    „Du erwartest, dass die Leute nachts in den Wald gehen und beten? Willst du, dass wir alle umgebracht werden?“
    „Es ist nicht mehr gegen das Gesetz, wenn wir uns versammeln und in der Bibel lesen. Und wenn wir uns tagsüber treffen anstatt nachts –“
    „Das machen wir nicht. Nein, Sir. Es ist zu gefährlich.“
    Ihr Mann atmete lautstark aus. Er sah enttäuscht aus, aber nicht wütend. Otis wurde nie wütend, selbst dann nicht, wenn er es vielleicht sollte. Lizzie verstand jedenfalls diese ganze Sache mit dem Vergeben und dem Hinhalten der anderen Wange nicht, auch wenn Jesus gesagt hatte, sie solle es tun.
    „In Ordnung, ich habe eine Idee“, sagte Otis. „Dieses Amt für Freigelassene soll doch eine Behörde sein, die auf uns aufpasst, richtig? Was ist, wenn wir unsere Gebetsversammlungen in der Stadt abhalten, gleich vor dem Büro, sodass Mr Chandler auf uns aufpassen kann? Vielleicht liest er uns ja sogar aus der Bibel vor, bis einer von uns es kann. Und wenn die Schule wieder renoviert ist, lässt er uns im Winter vielleicht das Klassenzimmer benutzen.“ Sie konnte sehen, wie er sich für den Gedanken erwärmte.
    „Diese weißen Männer haben versucht, das Büro anzuzünden, erinnerst du dich? Und Mr Chandler konnte sie nicht einmal daran hindern.“
    „Sie würden keine Kirche anzünden, Lizzie.“
    „Ha! Bist du dir da sicher?“
    „Ich finde meine Idee richtig gut. Wir treffen uns am Sonntagnachmittag … vielleicht finden wir ja auch einen Prediger …“
    „Aber nicht du! Nein, Sir! Es ist zu gefährlich.“
    Otis grinste. „Ich weiß, wie man Baumwolle anbaut, Lizzie, aber ich habe keine Ahnung vom Predigen. Aber wir können alle beten, oder nicht? Das ist im Moment das, was wir am dringendsten brauchen, mehr als alles andere. Bei allem, was hier passiert, müssen wir den lieben Gott

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