Am Anfang eines neuen Tages
das nächste Mal zu diesem Mann gehst, und uns anhören, was er zu sagen hat.“
„So geht das nicht. Wir müssen einzeln nach Fairmont gehen. Die Weißen hier in der Gegend mögen es nicht, wenn eine ganze Gruppe Schwarzer zusammen auftaucht.“
„Vielleicht können wir irgendwann gleich nach dem Abendessen gehen, wenn die Hausarbeiten erledigt sind“, sagte Otis. „Glaubst du, der Mann ist abends noch da?“
„Er wohnt über seinem Büro. Es ist in dem kleinen Steingebäude, das früher der Bahngesellschaft gehörte. Weißt du, welches ich meine? Gleich hinter dem Bahnhof?“
„Ich glaube schon.“
„Du kannst es gar nicht verfehlen. Und der Mann ist eigentlich die meiste Zeit da.“
Sie unterhielten sich noch eine Weile und erzählten sich Neuigkeiten und Geschichten aus früheren Tagen. Es war gut, Otis wieder mit seinem Bruder lachen zu sehen. Auf dem Heimweg schien die Nacht nicht mehr gar so dunkel zu sein, aber Lizzie gefiel die Vorstellung, den ganzen Weg nach Fairmont zu gehen, immer noch nicht. „Kannst du nicht allein gehen und mit diesem Yankee reden, Otis?“
„Das könnte ich, aber ich will, dass du auch hörst, was er zu sagen hat. Was immer wir entscheiden, wir müssen es zusammen entscheiden, du und ich.“
„Saul sagt, der Mann ist weiß. Vertraust du den Weißen?“
„Ich vertraue nicht direkt ihnen … aber ich vertraue Jesus.“
„Dolly sagt, Jesus war auch weiß.“
„Dolly irrt sich. Er ist der Sohn Gottes und er hat gar keine Farbe. Er wurde als armer Sklave geboren, genau wie wir. Er weiß, wie wir uns fühlen.“
„Das ergibt für mich keinen Sinn. Gehört Gott nicht die ganze Welt? Warum hat er dann seinen Sohn arm aufwachsen lassen?“
„Ich kann es nicht richtig erklären. Außerdem sollten wir jetzt lieber leise sein. In der Nacht hört man Stimmen sehr weit, und wenn Massa Daniel aufwacht, denkt er vielleicht, wir wären Diebe, und holt sein Gewehr.“
Zwei Tage später sagte Otis zu Lizzie, sie solle sich bereithalten, um ins Dorf zu gehen, sobald sie den Weißen das Abendessen gebracht hatte. Sie hatte den ganzen Tag lang Zeit, darüber nachzudenken, und wusste nicht so recht, ob sie Angst haben oder sich freuen sollte. Wahrscheinlich beides. Ihr Leben lang waren Leute zwischen White Oak und Fairmont hin und her gereist, aber Lizzie hatte die Plantage nie verlassen und mit eigenen Augen eine Stadt gesehen.
Sie machte sich immer noch Sorgen darüber, als Roselle am späten Nachmittag in die Küche gerannt kam und rief: „Komm schnell, Mama! Ich will dir etwas zeigen!“
„Jetzt nicht“, seufzte Lizzie. „Ich habe zu viel zu tun und ich brauche deine Hilfe dabei.“ Roselle war so verspielt, dass sie, wenn es in Strömen regnete, vielleicht sogar auf die Idee gekommen wäre, einen Regenbogen und das Gold an seinem Ende zu suchen. „Sag mir einfach, was es ist, Schätzchen. Ich muss arbeiten.“
„Rufus und Jack und ich haben eine Abkürzung am Stall vorbei genommen und auf einmal flatterte dieser große Vogel genau vor uns hoch. Er hat mit den Flügeln geschlagen und einen schrecklichen Lärm gemacht. Ich habe mich zu Tode erschrocken! Ich wollte wegrennen, aber dann habe ich gesehen, dass es eine Ente war. Eine Ente, Mama! Ich bin ein bisschen näher gegangen und habe gesehen, dass sie ein Nest voller Eier hatte. Acht Stück!“
„Hast du sie mir mitgebracht? Sie werden morgen zum Frühstück richtig gut schmecken.“
„Nein, Mama! In den Eiern sind vielleicht Entenbabys.“
„In Hühnereiern sind vielleicht auch kleine Hühner, aber wir essen sie trotzdem jeden Morgen zum Frühstück. Enteneier schmecken sehr gut.“
„Mama! Jetzt bin ich froh, dass ich sie dir nicht gezeigt habe!“ Roselle war außer sich und stand mit geballten Fäusten da, als wollte sie ihr eigenes Nest verteidigen. „Ich lasse niemanden diese Eier essen, Mama. Ich habe mich hinter den Büschen versteckt und das Nest eine Weile beobachtet und es gibt eine Entenmama und einen Entenpapa, die auf die Eier aufpassen, damit sie warm und sicher sind, bis die Kleinen schlüpfen.“
Das weiche Herz ihrer Tochter ließ Lizzie lächeln. „Tu, was du willst. Aber wundere dich nicht, wenn ein Waschbär oder Fuchs die Eier stiehlt. Und jetzt wasch dir die Hände und hilf mir beim Essenmachen.“
Lizzie und Otis machten sich gleich nach dem Abendessen auf in Richtung Dorf. „Wie weit ist es denn?“, fragte sie, als sie die Hauptstraße am Ende der Allee erreicht
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