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Am Anfang eines neuen Tages

Am Anfang eines neuen Tages

Titel: Am Anfang eines neuen Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lynn Austin
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Material schon sehr fadenscheinig war.
    „Wie sollen Jo und ich denn geeignete Ehemänner finden, wenn wir in Lumpen gekleidet sind?“
    Josephine schüttelte den Kopf und behielt ihre Gedanken für sich. Ihre Schwester würde bestimmt irgendwann einen Mann haben, da die Jungen in Marys Alter zu jung gewesen waren, um im Krieg zu kämpfen. Josephine hingegen würde wahrscheinlich als alte Jungfer sterben, da so viele der Männer, mit denen sie vor dem Krieg getanzt hatte, umgekommen waren. Bei einem solchen Ungleichgewicht konnten die Männer, die nach Hause zurückgekehrt waren, sich eine Braut aussuchen, die viel hübscher war als sie.
    „Du musst immer daran denken“, sagte Mutter, „dass deine Schönheit nicht davon abhängt, wie gut die Spitze an deinem Kleid ist. Schönheit und Charme kommen von innen. Ein hübsches Lächeln und freundliche Worte können für ein Dutzend Petticoats und meterweise Rüschen entschädigen. Ein reizendes Auftreten und gute Manieren sind viel wichtiger als die Kleider, die du trägst.“
    Daniel ließ seine Zeitung erneut sinken. „Hat Lizzie gesagt, dass ihre Jungs nicht da sind?“
    „Sie sind in die Schule gegangen!“, sagte Mary. Sie verdrehte die Augen, als wäre der Gedanke so absurd wie die Idee, einem Hund lesen beizubringen. Josephine zuckte zusammen und beobachtete Lizzies Reaktion. Aber die Miene der Dienerin hätte aus dem gleichen Mahagoni geschnitzt sein können wie der Esstisch.
    „Das bedeutet dann wohl, dass sie den ganzen Tag weg sind“, sagte Daniel. Die Zeitung raschelte, als er sie ärgerlich zusammenfaltete und vor sich auf den Tisch legte. „Was nützt es denn, unsere Schwarzen zu versorgen, wenn sie nicht hier sind um zu helfen, wenn man sie braucht?“
    „Wir müssen einfach noch mehr Arbeiter finden“, sagte Mutter. „Ich habe neulich Willy, unseren alten Kutscher, gesehen – er stand einfach an der Straßenecke im Dorf und hat den Leuten zugesehen, die vorbeifuhren, so faul wie nur irgendetwas.“
    „Deshalb müssen wir auch ein Gesetz gegen Landstreicherei erlassen“, sagte Daniel. „Dann müssen die Schwarzen beweisen, dass sie in Lohn und Brot sind, oder sie müssen ins Gefängnis.“
    „Aber Willy hat Rheuma“, sagte Josephine. „Du würdest doch einen verkrüppelten Mann nicht ins Gefängnis werfen, oder? Warum fragst du ihn nicht, ob er wieder für uns arbeiten will?“
    „Weil es nichts bringt, ihn durchzufüttern, solange wir nicht mehr Pferde haben“, erwiderte Daniel. „Übrigens weiß ich nicht, wie wir ohne eine anständige Pferdekutsche irgendwohin gelangen sollen. Und wie sollen wir ohne Maultiere die Felder bestellen?“
    Josephine hörte zu, wie ihr Bruder sich beklagte, und wusste, dass er vor allem sein bequemes Leben vermisste. Da Samuel dazu auserkoren gewesen war, die Plantage zu übernehmen, hatte Daniel sich nie Gedanken über das Pflanzen machen müssen oder über die Aufsicht über Sklaven oder das Ausbessern des Daches, wenn es undicht war. Er war in Williamsburg aufs College gegangen und hatte keinerlei Verpflichtungen gehabt, während er sich mit seinen Freunden vergnügt hatte. Aber jetzt hatte Daniel Verpflichtungen – und für seine Mutter und seine beiden Schwestern zu sorgen, indem er sich um Dinge wie Essen und Kleidung und das Dach über ihrem Kopf kümmerte, war nicht gerade die unwichtigste Aufgabe. Es schien Josephine, als hätte der Krieg ihn in einen vollkommen anderen Menschen verwandelt. Sein faules Grinsen war hinter dem blonden Vollbart verschwunden, den er sich während seiner Abwesenheit hatte wachsen lassen, und seine Augen hatten nicht mehr die Farbe eines Sonnenhimmels, sondern einen Grauton, der sie an Gewitterwolken erinnerte.
    Am liebsten hätte Josephine mit dem Fuß aufgestampft und gesagt: Hört auf, haltet alle den Mund! Ich bin euer Gejammer leid! Was nützte es denn, dem nachzutrauern, was sie verloren hatten? Das Leben war für keinen von ihnen einfach und das endlose Klagen machte es nur noch schlimmer.
    Aber natürlich sagte sie nichts. Sie hatte in diesen schrecklichen Jahren gelernt zu schweigen, ihre Gedanken und Gefühle und Ängste für sich zu behalten und sie niemals laut auszusprechen. Mutter hatte während des Krieges für sie alle gesprochen und sich jedem entgegengestellt, der sie in ihrer schönen, gebieterischen, selbstsicheren Art bedroht hatte, fast als wäre sie ein befehlshabender General. Josephine hatte alles getan, um nicht gesehen oder gehört zu

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