Am Anfang eines neuen Tages
Lizzie war keine Sklavin mehr. Es musste ihrer Mutter schwerfallen, die zornige Antwort herunterzuschlucken, die sie ihr früher gegeben hätte. „Wo ist Roselle?“, fragte sie. „Ist sie auch zu beschäftigt, um uns zu bedienen?“ Jedes Wort durchstach den stillen Raum so scharf und spitz wie ein Nagel, aber Lizzie schien gegen die Stichelei immun.
„Sie ist heute in der Schule, Ma’am. Meine Roselle geht jetzt in die neue Schule für schwarze Kinder. Meine beiden Jungen gehen auch dahin.“ Lizzies Blick hätte sich nicht über den Boden erheben sollen, während sie mit einer weißen Frau sprach, aber sie hob stolz das Kinn.
Die Stimmung im Raum war zum Zerreißen gespannt. Mutter ließ Lizzie warten, bevor sie ihren nächsten Zug machte, so wie Daddy manchmal innegehalten hatte, um jede Figur auf dem Schachbrett zu betrachten, wenn er eine Partie spielte. Bei einem Kräftemessen konnte es niemand mit Eugenia Weatherly aufnehmen. Aber wenn Lizzie ginge, wie alle anderen es getan hatten, wäre die Familie hilflos – und alle im Raum wussten das. Das Machtverhältnis hatte sich kaum merklich von der Herrin zur Dienerin verschoben, seit der Krieg geendet hatte, aber für eine stolze Frau wie Josephines Mutter musste die Welt Kopf stehen.
„Wir haben fertig gegessen“, sagte Mutter schließlich. „Du kannst jetzt den Tisch abräumen.“
„Ja, Ma’am.“
Josephine fand diesen Wortwechsel peinlich. Sie war all die sinnlosen Manöver leid, mit denen ihre Mutter vergeblich versuchte, ihren Haushalt nach den alten Regeln zu führen. Der Krieg hatte alle Regeln geändert. Das Leben würde nie wieder so sein wie vorher, und je eher ihre Mutter aufhörte, den Blick in die Vergangenheit zu richten, und sich daran gewöhnte, wie die Dinge jetzt waren, desto besser wäre es für alle. Aber während Lizzie schweigend um den Tisch herumging und das Geschirr einsammelte, versuchte Mutter ihre Autorität zurückzuerlangen, indem sie tat, was sie ihr ganzes Leben lang getan hatte, nämlich vor Lizzie zu sprechen, als wäre diese taub oder verstünde kein Englisch. „Wozu in aller Welt brauchen schwarze Kinder denn eine Schule?“, fragte sie.
„Wenn du mich fragst, ist das Unsinn“, antwortete Daniel. „Jemand muss der Sache ein Ende machen.“
Josephine wollte unbedingt die zunehmende Spannung abbauen. „Hast du für heute irgendwelche Pläne, Mutter?“, fragte sie.
„Ja, Liebes. Wir machen Besuche.“
Josephine unterdrückte ein Stöhnen. Besuche waren noch eines der sinnlosen Relikte aus der Zeit vor dem Krieg. Es gab so viel Arbeit, wenn ihr Haushalt überleben sollte, Arbeit, die Lizzie und ihr Mann Otis unmöglich allein bewältigen konnten. Aber Mutter weigerte sich, die Wahrheit zu akzeptieren, geschweige denn, in die Küche oder den Garten zu gehen und selbst mit anzupacken. „Ich möchte, dass ihr zwei Mädchen euch umzieht und mitkommt“, sagte sie.
Mary schnitt eine Grimasse. „Ich habe nichts zum Anziehen. Es ist peinlich, immer in demselben Kleid gesehen zu werden.“
„Wen interessiert das denn?“, fragte Josephine. „Die anderen haben doch auch keine neuen Kleider.“
„Außerdem hängen ohne Petticoat alle meine Kleider wie Lumpen an mir“, fuhr Mary fort. „Wir sind genauso schlecht gekleidet wie Lizzie und Roselle. Können wir Ida May nicht vielleicht dazu überreden, zurückzukommen und wieder für uns zu nähen?“
„Wir werden sehen“, murmelte Mutter.
Josephine verdrehte die Augen angesichts solcher realitätsfremder Vorstellungen. Als Ida May ihre Sklavin gewesen war, hatte Mutter an den winzigsten Kleinigkeiten etwas auszusetzen gehabt, sodass die arme Ida May alle ihre feinen Stiche wieder hatte auftrennen und ganz von vorne anfangen müssen. Nein, sie würde sich mit Sicherheit nicht dazu überreden lassen, zurückzukommen. Als freie Näherin konnte sie sich ihre Kundinnen jetzt selbst aussuchen.
„Vor dem Krieg hatten wir volle Kleiderschränke“, sagte Mary mit einer Handbewegung, als wäre auch das Esszimmer voller Kleider gewesen. „Jetzt haben wir nichts!“
„Du bist ja wohl kaum nackt“, murmelte Josephine, aber niemand schien sie zu hören. Jo war siebzehn gewesen, bevor der Krieg begonnen hatte, und Mary elf, aber jetzt waren sie beide aus ihren Kleidern herausgewachsen. Ida May hatte sich bemüht, ihre Kleider zu ändern, aber der zerschlissene Stoff war in den vergangenen fünf Jahren so oft gewendet und neu zusammengenäht worden, dass das
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