Am Anfang eines neuen Tages
uns geblieben sind. Und meine Mutter ist eine sehr starke Frau. Sie ist fest entschlossen, ihr Leben zurückzubekommen, wie es einmal war – abgesehen von meinem Vater und meinem Bruder natürlich. Es gelingt mir einfach nicht, sie davon zu überzeugen, dass unser Leben unmöglich wieder so sein kann wie früher. Wir werden das, was wir verloren haben, nie mehr zurückbekommen.“ Josephine verstummte verlegen, weil sie einem Fremden ihr Herz ausschüttete – und dazu noch einem Yankee. Was war nur in sie gefahren? „Tut mir leid, ich halte Sie von Ihrer Arbeit ab.“ Sie wollte seine Jacke von ihren Schultern streifen, aber er hielt sie zurück.
„Bitte, behalten Sie sie noch eine Weile. Und ich habe keine Eile damit, wieder an die Arbeit zu gehen. Zuerst möchte ich sicher sein, dass es Ihnen gut geht.“ Das war eindeutig nicht der Fall. Sie zitterte am ganzen Körper und fragte sich, ob sie jemals damit würde aufhören können.
„Da war so viel Blut!“, sagte sie fröstelnd. „Ich kann mir nicht vorstellen, so verzweifelt zu sein, dass ich das tun würde. Ich werde nie den Ausdruck in Harrisons Gesicht vergessen, als er das Rasiermesser hob –“ Zu ihrem Entsetzen stellte Josephine fest, dass ihr Tränen über die Wangen liefen. Mr Chandler rutschte näher und legte einen Arm um ihre Schultern. Seine Umarmung war so tröstlich, dass Josephine einen Augenblick lang vergaß, wer er war, und sich an ihn lehnte, dankbar für jemanden, an den sie sich klammern konnte, jemanden, der ihr zuhörte und sie ernst nahm.
„Nach allem, was Harrison durchgemacht hat“, schluchzte sie, „nach all dem Blutvergießen, das er mit angesehen hat, sollte man doch meinen, dass das Leben für ihn kostbar ist. Dass er sich glücklich schätzen müsste, überhaupt am Leben zu sein. Aber stattdessen will er sterben.“
„Man kann nur verstehen, was Männer wie Harrison und Ihr Bruder wirklich durchgemacht haben und wie es sie verändert hat, wenn man selbst im Krieg gewesen ist, Miss Weatherly.“ Er sprach leise und sanft und sie fühlte die Kraft seiner Arme, als würden sie verhindern, dass sie zerbrach. „Nach einer Weile ist man so oft mit dem Tod konfrontiert worden, dass man abstumpft. Man fängt an zu erkennen, wie nah wir dem Sterben in jedem Augenblick des Tages sind. Wir sind nur einen Herzschlag oder eine Kugel davon entfernt. Im Krieg wird man Tag für Tag mit dem Tod konfrontiert, man sieht die Freunde sterben, sieht dem Tod selbst ins Angesicht und hört irgendwann auf, ihn zu fürchten. Er scheint unvermeidlich. Man wird zu einem lebendigen Toten.“
„Harrison hat mit angesehen, wie mein Bruder gestorben ist. Samuel war sein bester Freund.“
„Wir alle haben unsere Freunde sterben sehen. Bei einer Schlacht hier in Virginia erhielten wir den Befehl, eine feindliche Abwehrschanze oben auf einem Hügel anzugreifen. Ein Geschwader nach dem anderen rannte direkt in das feindliche Feuer und wurde wie Heu niedergemäht. Männer, mit denen ich marschiert war und gelebt und gelacht hatte, lagen auf diesem Hügel, tot, sterbend, mit qualvollen Schmerzen. Aber wenn sie fielen, befahl der Kommandeur einfach dem nächsten Geschwader, den Hügel vor uns hinaufzustürmen. Ich habe gesehen, wie fünftausend Männer in zwanzig Minuten starben. Ich stand mit meinem Geschwader bereit und wartete darauf, dass wir an die Reihe kamen, darauf, dass ich den Befehl erhielt, als Nächster zu sterben, und es schien so unvermeidlich zu sein, dass es mir gleichgültig war.“
Er hielt inne, und als er nicht sofort weitersprach, blickte Josephine zu ihm auf. Er hatte Tränen in den Augen.
„Irgendwann sah jemand ein, wie sinnlos das alles war, und gebot dem Gemetzel Einhalt. Aber ich kann verstehen, warum es Ihrem Freund egal ist, ob er lebt oder stirbt. Der Tod ist nichts. Im Krieg ist er ein gewöhnliches, tägliches Vorkommnis. Eine Rasierklinge am Handgelenk ist nichts gegen das, was er erlebt hat.“
„Ich weiß nicht, wie ich ihm helfen soll. Wie kann ich ihn dazu bringen, nach vorne zu blicken?“
„Solange er verbittert bleibt, wird er das nie können. Verbitterung ist eines der tödlichsten Gefühle, die wir empfinden können. Man kann nicht vorwärts sehen, wenn man verbittert ist, sondern nur rückwärts – man denkt an das, was man verloren hat, steckt in der Vergangenheit fest und verzweifelt, weil sie nicht mehr da ist. Am Ende verschlingt diese Bitterkeit jede Hoffnung.“
Er beschrieb, was Josephine in
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