Am Anfang eines neuen Tages
Bezug auf ihre unerhörten Gebete empfand: Bitterkeit. Und plötzlich erinnerte sie sich daran, dass sie mit einem Feind sprach. Sie sollte nicht allein hier mit ihm sitzen. Es gehörte sich nicht. Josephine setzte sich mit einem Ruck auf, wand sich aus seiner Umarmung und schüttelte seine Jacke ab. „Was machen Sie überhaupt hier in Virginia, Mr Chandler? Haben Sie nicht irgendwo im Norden ein Zuhause und eine Familie?“
„Als ich aus dem Krieg nach Hause kam, war ich genauso verbittert wie Mr Blake und –“
„Das bezweifle ich sehr! Sie waren doch auf der Seite der Gewinner.“
„Bei einem Krieg gewinnt niemand, Miss Weatherly. Auf irgendeine Weise verlieren wir alle. Ich habe meine Familie verloren, das Mädchen, das ich heiraten wollte, meine Selbstachtung … aber ich will Sie nicht mit meiner Geschichte langweilen.“
„Nein, bitte. Ich würde gerne hören, was Sie meinen, verloren zu haben.“
„Tja“, sagte er seufzend, „meine Familie gehört zur Religiösen Gesellschaft der Freunde – wir sind Quäker. Ich wurde in diesem Glauben erzogen und engagierte mich sehr in der Bewegung für die Abschaffung der Sklaverei. Ich konnte nicht verstehen, wie jemand einen Menschen besitzen konnte. Ich hatte Onkel Toms Hütte gelesen und wir alle hörten schreckliche Geschichten über die Sklaverei im Süden. Mein Glaube lehrt mich, dass es falsch ist und nicht zum Christentum passt, ein Leben in Wohlstand und Bequemlichkeit zu führen, während man andere leiden und schuften lässt. Wir glauben auch, dass Gott die Sklaverei überhaupt nicht gefällt.“
„Mein Vater war immer gütig und gerecht zu unseren Sklaven. Er hat nie einen ausgepeitscht oder misshandelt.“ Sie zog sein Taschentuch von ihrem Finger und gab es ihm zurück.
„Aber er hat andere besessen , Miss Weatherly. Menschen. Das verstand ich einfach nicht und dafür hasste ich die Südstaatler.“
„Kannten Sie überhaupt welche von uns?“
„Nein, natürlich nicht. Kannten Sie irgendwelche Yankees, als Sie anfingen, uns zu hassen?“
„Wir hatten gute Gründe, Sie zu hassen. Ihre Armee ist in unsere unabhängige Nation einmarschiert und hat unser Land zerstört.“
Er hob abwehrend die Hände und schwenkte kurz sein Taschentuch wie eine Friedensfahne. „Das verstehe ich. Und es tut mir leid.“ Er überlegte einen Moment. „Quäker lehren Gewaltlosigkeit. Wir sind Pazifisten – oder sollen es zumindest sein. Aber ich wollte kämpfen. Andere Männer meines Alters zogen Uniformen an und lernten mit Schusswaffen umzugehen und zogen in den Krieg, und das erschien mir so männlich und mutig. Ich hätte den Dienst an der Waffe aus Gewissensgründen verweigern und bei meiner Einberufung eine andere Arbeit machen können als zu kämpfen, aber das wollte ich nicht. Ich erklärte meinem Vater, mein Beweggrund sei der Wunsch, bei der Sklavenbefreiung zu helfen. Er sagte, ich mache mir etwas vor, und das stimmte. In Wahrheit war ich zwanzig Jahre alt und wollte reisen und kämpfen wie alle anderen in meinem Alter und mir Ruhm und Ehre verdienen. Wie Sie sich vorstellen können, waren meine Eltern entsetzt. Die Frau, mit der ich verlobt war, wollte nichts mehr mit mir zu tun haben.“
„Und war es all das wert? War es so, wie Sie es sich erhofft hatten, als Sie uns töteten?“
„Es war die Hölle“, sagte er kopfschüttelnd. „Oder beinahe so schlimm. Als ich das erste Mal in eine Schlacht zog und mit dem Gewehr auf einen anderen Mann zielen und abdrücken musste, konnte ich es nicht. Ich wusste, dass ich einen Riesenfehler gemacht hatte. Aber ich musste schießen. Ich musste töten, damit ich nicht getötet wurde. Wenn ich nicht mitmachte, aber es irgendwie schaffte zu überleben, würde ich als Feigling dastehen. Wenn ich weglief, würde ich als Deserteur erschossen. Wenn ich meine Angreifer nicht tötete, würde ich höchstwahrscheinlich von ihnen getötet werden – und ich wollte nicht sterben. Ich hatte mich in eine unmögliche Situation manövriert und mir blieb nichts anderes übrig, als die Befehle zu befolgen und zu schießen.“
„Und als der Krieg zu Ende war?“
„Meine Heimat wurde vielleicht nicht besetzt so wie die Ihre, aber ich hatte nichts mehr, zu dem ich zurückkehren konnte. Ich verstehe, wie es Ihnen und Mr Blake und Ihren Familien geht. Ich mag den Krieg gewonnen haben, aber ich hatte alles verloren, was mir wichtig war. Mein altes Leben war für immer verloren, alles, was ich für selbstverständlich
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