Am Anfang eines neuen Tages
nützen. Gott würde ihr nicht helfen. Sie musste eine andere Quelle finden, aus der sie die Kraft ziehen konnte, um weiterzumachen. Eigentlich hätte sie an dieses Gefühl der Einsamkeit inzwischen gewöhnt sein müssen.
„Es ist sehr freundlich von Ihnen, den Blakes auf diese Weise zu helfen“, sagte der Arzt, nachdem Josephine das Schlafzimmer im Erdgeschoss erneut betreten hatte. Harrison lag wieder in seinem Bett, ganz still und mit geschlossenen Augen. „Hören Sie, Josephine. Ich sehe, dass die heutigen Ereignisse nicht spurlos an Ihnen vorübergegangen sind. Ehrlich gesagt sehen Sie ziemlich mitgenommen aus. Ich hoffe, Sie werden sich heute Nachmittag etwas ausruhen.“
„Ja … danke. Ich werde mich ein wenig hinlegen. Mrs Blake hat jetzt Dienstboten, die das Kochen und Putzen übernehmen. Der Agent vom Amt für Freigelassene hat das veranlasst.“
„Mr Chandler leistet hier gute Arbeit. Er ist ein guter Mann.“
„Ich wünschte, mein Bruder Daniel würde auf ihn hören. Wir könnten auf White Oak auch Hilfe gebrauchen.“
„Wer arbeitet denn auf Ihrer Plantage?“
„Eigentlich niemand. Wir haben nur noch eine Hausdienerin und einen Feldarbeiter und er kann unmöglich allein das Land bestellen. Daniel will nicht um Hilfe bitten, und deshalb trägt Mutter die ganze Bürde allein auf ihren Schultern. Sie war hier, als Mr Chandler die Sache mit den Farmpächtern erklärt hat, und sie meinte auch, das sei eine gute Idee, aber Daniel will nichts davon hören.“
„Soll ich mit ihm reden? Ich könnte bei Ihrer Plantage vorbeifahren, bevor ich ins Dorf zurückkehre, wenn Sie glauben, dass er und Ihre Mutter zu Hause sind.“
„Ja, ich glaube, sie sind daheim. Danke.“
„Ich finde selbst hinaus.“
Als sie wieder in Harrisons Zimmer Platz nahm, fiel Josephine Mr Chandlers Frage wieder ein. Was wünschte sie sich für ihr Leben, für ihre Zukunft? Sie hatte keine Zeit gehabt, darüber nachzudenken oder ihm eine Antwort zu geben. Aber was wollte sie eigentlich? Heute wünschte sie einfach nur, dass dieses schreckliche Drama vorbeiging. Dass alle aufhörten zu jammern, dass sie nicht länger in der Vergangenheit lebten und alle Bitterkeit aufgaben – und einfach nur lebten.
Und für ihre eigene Zukunft? Josephine hatte Angst zu träumen, hatte Angst, sich etwas zu wünschen wie eine Ehe und Kinder oder ein eigenes Haus. Sie hatte gelernt, ihre Gefühle zu unterdrücken und nicht über die Zukunft nachzudenken. Ihr einziger Wunsch in letzter Zeit war gewesen, dass das Loch in ihrem Innern verschwand, aber das war wahrscheinlich ebenso unrealistisch wie zu erwarten, dass die Yankees Mutters Teppiche zurückbrachten, sodass die nackten Stellen auf dem Boden wieder bedeckt waren.
Plötzlich fiel ihr der zerbrochene Spiegel wieder ein und wie Mr Chandler – Alexander – ihn ihr weggenommen und neben sich auf die Treppe gelegt hatte. Sie hatte ihn dort liegen lassen, wo Mrs Blake ihn sehen könnte.
Josephine eilte auf die Veranda hinaus und dachte, sie würde ihn dort finden, ihn wegwerfen und Mr Chandler für seine Hilfe danken können. Hatte sie sich bei ihm bedankt?
Aber der Spiegel war fort und Mr Chandler auch.
Kapitel 15
Eugenia suchte vergeblich den Vormittagssalon nach der Glocke aus Sterlingsilber ab, die sie immer benutzte, um Lizzie zu rufen. Was war nur damit geschehen? Als sie sie nicht finden konnte, war sie gezwungen, den ganzen Weg hinaus zur Küche zu gehen, um Lizzie höchstpersönlich zu holen. Es würde sie nicht wundern, wenn das Mädchen die Glocke gestohlen hätte, um nicht herbeigeklingelt werden zu können. Sie war immer eine der langsamsten Sklavinnen gewesen.
„Da bist du ja“, sagte sie, als sie Lizzie beim Kartoffelschälen in der Küche antraf. „Weißt du, was mit meiner silbernen Glocke geschehen ist?“
Lizzie sah sich überrascht um. „Ist sie nicht auf dem Tisch im Vormittagssalon?“
„Nein. Ich habe überall danach gesucht. Bist du dir sicher, dass du sie nicht gesehen hast?“ Lizzie schüttelte den Kopf. Wenn sie die Glocke gestohlen hatte, verstellte sie sich sehr geschickt. „Hör zu, ich habe dich vor drei Tagen gebeten, das Holz des Treppengeländers mit Möbelpolitur einzureiben, aber wie ich sehe, ist die Arbeit immer noch nicht getan. Hast du es vergessen?“
„Nein, Ma’am. Aber Missy Mary wollte heute Morgen, dass ich ihr etwas bringe, und Massa Daniel brauchte sofort einen Krug mit frischem Wasser, und dann musste ich die Suppe fürs
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