Am Anfang war das Wort
wurde sie von einer schrecklichen Angst gepackt, daß man sie unter Anklage stellen könnte, daß es ihr so gehen könne wie Kafkas Josef K., und von einem Gefühl der Unsicherheit: Vielleicht hatte sie ja tatsächlich etwas falsch gemacht. Der große Mann hielt ihr eine Schachtel Zigaretten hin, und sie schüttelte den Kopf. Ihre Kehle wurde immer trockener, und ihre Hände zitterten.
Endlich begann er zu sprechen. Seine Stimme war weich und ruhig. Zuerst fragte er sie nach ihrer Funktion im Büro der Fakultät, erkundigte sich danach, was sie außerhalb der Arbeit tat, nach ihrem Familienstand.
Sie merkte, daß sie aus einem Impuls heraus, ihm zu gefallen, bereitwillig antwortete. Wieder sah sie auf ihre Uhr und stellte fest, daß nur fünf Minuten vergangen waren und er bereits alles von ihr wußte. Er wußte von ihrem Psychologiestudium, dem Zimmer, das sie in der Bnei-BritStraße gemietet hatte, von der Frau, die mit ihr die Wohnung teilte, von dem Freund, den sie gehabt hatte, und sogar von dem Wunsch ihrer Eltern, sie verheiratet und glücklich zu sehen, in ihrem fortgeschrittenen Alter. Er lächelte bei dieser Formulierung und nickte, als hätten seine Eltern auch immer so geredet. Sie fragte sich, ob er verheiratet war. Er trug keinen Ring, doch Racheli wußte trotz ihrer vierundzwanzig Jahre, daß nicht alle verheirateten Männer einen Ring trugen.
Sie hatte gar nicht gemerkt, wann sie begonnen hatten, über Tirosch und die Fakultät zu reden. Irgendwie war es ihm gelungen, den Übergang zu finden, so daß sie innerhalb weniger Minuten detailliert von Adina erzählte. Sie hatte das Gefühl, als höre er aufmerksam zu und interessiere sich tatsächlich für ihre Schwierigkeiten, und als wolle er wirklich ihre besondere Sicht auf die Angehörigen der Fakultät erfahren. Er fragte nicht nach ihrer Beziehung zu Tirosch, sondern bat sie, ihn so zu beschreiben, wie sie ihn wahrgenommen hatte.
Racheli fühlte sich wie verzaubert von diesen dunklen Augen, und die weiche Stimme brachte sie zum Sprechen. »Er hatte eine ganz besondere Ausstrahlung. Einen solchen Mann habe ich noch nie getroffen. Ich habe seine Gedichte schon in der Schule geliebt, und meine erste Begegnung mit ihm hat mich vollkommen fasziniert. Seine äußere Erscheinung, sein umfassendes Wissen und die Art, wie ihn jeder bewunderte. Aber ich wollte ihm nicht zu nahe kommen.«
Während des Redens spürte sie, daß der Mann mit ihr übereinstimmte, daß er dasselbe empfand wie sie, deshalb zögerte sie nicht, als er fragte: »Warum?« Es war ihr klar, daß er wissen wollte, warum sie, Racheli Loria, nicht die Nähe Scha'ul Tiroschs suchte, deshalb antwortete sie, ohne nachzudenken: »Ich habe mich vor ihm gefürchtet. Er hat mir angst gemacht.«
Mit demselben interessierten Ton fragte der Mann: »Womit?« Und Racheli antwortete verlegen: »Er hatte etwas Unaufrichtiges, aber das ist nur so ein Gefühl; eigentlich meine ich nicht unaufrichtig, sondern unecht. Ich konnte ihm nicht vertrauen. Ich habe gesehen, wie er Frauen schöne Augen gemacht hat, als würde er mit ihnen flirten, aber man wußte nie, ich meine, ich wußte nie, ob er es ernst meinte.«
Der Mann auf der anderen Seite des Tisches beugte sich vor, sie sah seine langen, dunklen Wimpern, die dichten Augenbrauen. Drängend und mit Autorität in der Stimme sagte er: »Geben Sie mir ein Beispiel, beschreiben Sie eine Situation, die Sie berührt hat.«
»Ich kann es nicht genau erklären, aber ich war manchmal allein mit ihm im Büro, und einmal, als die Heizung in seinem Zimmer getröpfelt hat und repariert werden mußte, hielt er seine Sprechstunde im Sekretariat ab. Nur ich war dort, Adina hatte irgendeine kleine Operation, deshalb war sie nicht bei der Arbeit, sonst ist sie ja immer da, und da bin ich mit ihm ins Gespräch gekommen. Sein Verhalten mir gegenüber war so, daß ich das Gefühl hatte, er halte mich für etwas wirklich Besonderes. Er, der berühmte Professor, der Dichter und alles, spricht mit mir, der kleinen Studentin, als wäre ich eine richtige Frau.« Sie hielt inne, aber der Mann wandte den Blick nicht von ihr und wartete, daß sie fortfuhr.
»Ich hatte das Gefühl, als wäre ich im Kino, als hätte ich die Szene schon mal gesehen. Er stand am Fenster und sprach wie zu sich selbst, über sich selbst. Er sagte, in seinem Alter frage man sich, ob man überhaupt wirkliche Freunde habe, und dann sprach er über die Einsamkeit des Menschen an sich. Er hat eine Zeile
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