Am Anfang war der Seitensprung
einen Brief hin. Es war Rilkes Schrift.
Mit zitternden Fingern öffnete ich den Umschlag und entnahm ihm ein handbeschriebenes Blatt. Es war – was sonst – ein Gedicht.
Vergeblich war es dich zu suchen weil ich dich niemals wirklich fand.
Als ich versuchte dich zu sehen hab ich dich nicht einmal erkannt.
Als ich versuchte mich zu nähern hab ich mich immer mehr entfernt.
Als ich versuchte dich zu spüren zerfloß dein Bild in meiner Hand Darunter stand: »Verzeih mir. Danke für alles. Viel Glück, Dein Felix.«
Ich weinte nicht. Ich hielt das Papier ganz fest und wunderte mich, warum Rilke das aufgeschrieben hatte, was ich fühlte. Mit dem Brief in der Hand schlief ich ein.
Ich erwachte von lauten Stimmen im Haus und lauschte, um zu verstehen, was los war. Bevor ich die Stimmen unterscheiden konnte, öffnete sich die Tür und Queen Mum stand im Zimmer.
»Anna, was ist das für eine Geschichte? Ich komme extra von meinem Yoga-Wochenende zurück, weil Friedrich mir sagt, du hättest einen Suizidversuch unternommen, und nun höre ich, es ist alles in Ordnung?!«
»Tut mir leid, Mummy, nächstes Mal sorge ich dafür, daß du nicht umsonst kommst.«
Sie war näher gekommen und setzte sich auf die freie Betthälfte.
»Wolltest du wirklich … ich meine, wolltest du dich ernsthaft umbringen? Ich versteh dich einfach nicht, du hast doch alles! Wie konntest du nur auf eine so furchtbare Idee kommen!«
Sie sah so gesund und glücklich aus. Seit sie mit Martin zusammen war, schien sie immer jünger zu werden und strahlte noch mehr Kraft und Vitalität aus als vorher.
Wie sollte ich ihr klarmachen, was mit mir los war? Wie traurig ich war. Wie sehr ich mich schämte. Daß ich nicht wußte, wie es weitergehen sollte mit Friedrich, den Kindern, meinem ganzen Leben.
»Oder ist es etwa wegen dieses Jungen?« fragte Queen Mum ungläubig.
Ich machte eine abwehrende Handbewegung. »Ich will nicht darüber sprechen, Mummy.«
»Du willst nie über irgendwas sprechen!« sagte sie heftig. »Lieber bringst du dich um, was? Man kann nicht vor sich selbst davonlaufen, Anna! Ich bin wirklich enttäuscht von dir.«
Das war mir ja nun völlig schnurz, außerdem war es wahrhaftig nichts Neues.
»Im übrigen hast du mir einen schlimmen Schrecken eingejagt«, fuhr sie mit leiserer Stimme fort und wischte sich eine Träne aus dem Auge. »Aber es hat dich ja noch nie gekümmert, was du bei anderen anrichtest.«
Dann stand sie auf. An der Tür drehte sie sich noch mal um. »Es tut mir leid, daß es dir so schlecht geht, Anna.
Aber bitte finde heraus, welchen Anteil du selbst daran hast. Wenn ich irgend etwas für dich tun kann, laß es mich wissen.«
Damit schloß sie leise die Schlafzimmertür.
Es ist eine Woche vor meinem achtzehnten Geburtstag, und ich bin bei der ersten Beerdigung meines Lebens.
Umringt von Mitschülern stehe ich vor einem frisch ausgehobenen Grab und versuche mir vorzustellen, wie jemand aussieht, der einen tödlichen Motorradunfall hatte.
Julian, der Junge der mich entjungfert hat, ist vor ein paar Tagen achtzehn geworden. Das erste, was er gemacht hat, war die Führerscheinprüfung. Das zweite der Unfall. Er ist mit seiner Maschine unter einen Lastwagen gekommen.
Wir sind schon lange nicht mehr zusammen, und ich habe in der Zwischenzeit mindestens mit acht anderen Jungen geschlafen. Sex erscheint mir als unkompliziertes Vergnügen, es kostet nichts, ist leicht zu bekommen und dank der Pille ein Genuß ohne Reue.
Obwohl Julian und ich uns selten gesehen haben, habe ich das Gefühl einer besonderen Verbindung, eines Geheimnisses zwischen uns gehabt. Und nun ist er tot.
Sein Leben als Erwachsener hat kaum begonnen, da ist es schon beendet.
Neben mir schluchzt das Mädchen, mit dem er zuletzt gegangen ist. Uns gegenüber, auf der anderen Seite des Grabes, stützt sich eine verzweifelt weinende Frau auf einen Mann, dessen Gesicht völlig erstarrt ist. An seinen anderen Arm klammert sich ein ungefähr fünfzehnjähriges Mädchen. Der Mann wankt, fast stürzt er unter dem Ansturm des Leids.
Die Situation hat etwas Unwirkliches, es kommt mir vor, als handele es sich um einen Irrtum, einen bedauerlichen Regiefehler. Jeden Moment erwarte ich eine Stimme, die sagt: » Stop, Blödsinn, steh auf, Julian, du bist nicht tot. Doch nicht mit achtzehn, wem fällt denn so etwas ein! «
Aber die Stimme kommt nicht.
Wir schaufeln ein bißchen Erde auf Julians Sarg, und ich wundere mich, wie hohl es beim
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